Agent 6
dem Konzert zu gehen. So viel Macht hast du. Aber wenn du das tust, werde ich Leo nie verzeihen.
Am selben Tag
Yates hatte Mühe, die Übersetzerin mit ihrem schweren russischen Akzent zu verstehen. Sie lebte seit über vierzig Jahren in diesem Land, lehrte als Professorin für Linguistik an einer Eliteuniversität und konnte trotzdem nicht einmal richtig Englisch sprechen. Er fragte:
– Die Mutter hat nachgegeben?
– Die Tochter geht zu dem Konzert. Ihre Mutter hat es erlaubt.
– Hat das Mädchen erwähnt, was sie sonst vorhat? Hat sie noch etwas gesagt?
– Sie hat abgestritten, dass etwas Böses vor sich geht.
– Sind Sie sicher?
– Ja, bin ich.
– Sie hat nichts von einer Verschwörung gesagt?
– Ich rede schon mein Leben lang Russisch.
Die Übersetzerin mochte Yates nicht, und sie hatte keine Angst, das zu zeigen. Sie betrachtete ihn über die dicken Ränder ihrer Brille hinweg, als wäre er unter aller Kritik. Als Einzige hatte sie Einwände gehabt, bei dieser Operation zu helfen, weil sie sagte, sie sei Akademikerin, keine Spionin.
– Sie sprechen also Ihr Leben lang schon Russisch? Das ist eine lange Zeit. Vielleicht hegen Sie ja immer noch sentimentale Gefühle für das Land und lassen daher jetzt ein, zwei wichtige Fakten weg?
Mit einem vor Wut verkniffenen Gesicht antwortete die Frau:
– Lassen Sie die Mitschrift von jemandem überprüfen, dem Sie vertrauen, falls es so jemanden gibt.
Yates vergrub die Hände tief in den Taschen.
– Warum beantworten Sie nicht einfach meine Frage? Im Moment interessiere ich mich nicht für Sie. Mich interessiert nur, worüber diese Familie gesprochen hat. Ist der Name Jesse Austin gefallen?
– Nein.
Yates packte die von Hand geschriebene Mitschrift von Raisas Gespräch mit Leo und wandte sich an den ganzen Raum.
– Diese Russin da am Telefon ist eine bessere Ermittlerin als ihr alle. Sie weiß, dass etwas faul ist. Sie hat es im Gefühl. Und sie hat recht. Los, macht euch gefälligst an die Arbeit!
Dann nahm er die Akte über Raisa Demidowa und ihre Töchter Elena und Soja zur Hand. Sie enthielt lediglich die offiziellen Informationen, die die sowjetischen Behörden weitergegeben hatten, Daten wie ihr Gewicht und ihre Notendurchschnitte. Er knallte die Akte auf den Tisch.
Ein Agent rief:
– Die Schüler steigen gerade in den Bus. Wollen Sie mitfahren?
Yates überlegte.
– Ihre Kollegen sollen diese Familie im Auge behalten. Sie soll auf Schritt und Tritt beschattet werden, vom Bus bis zum UN -Gebäude. Sie dürfen keinen Moment lang unbeobachtet sein.
Während die Agenten mit den Schülern beschäftigt waren, die zum Bus gingen, lief Yates vor den Tischen der Übersetzer auf und ab, voller Ärger darüber, dass er nicht einmal ansatzweise ahnte, warum die Sowjets es so gezielt darauf anlegten, dass Jesse Austin zu dem Konzert erschien. Sie hatten dieses Mädchen geschickt, sie hatten riskiert, dass es das Hotel verließ. Dabei würde Jesse Austins Anwesenheit es nicht einmal in die Nachrichten schaffen. Er rief:
– Haben wir in letzter Zeit irgendwelche Aktivitäten in Harlem festgestellt?
Ein Agent aus dem Außendienst kam auf ihn zu.
– Ein Team, das auf einen mutmaßlichen Sowjetspion angesetzt ist, hat gemeldet, dass er heute Morgen in Harlem war. Normalerweise schafft er es, uns in der U-Bahn abzuhängen. Aber heute nicht, wir sind ihm gefolgt.
– Wohin ist er gegangen?
– In die 145th Street.
– Wer war es?
– Er heißt Osip Feinstein.
Manhattan
Global Travel Company
926 Broadway
Am selben Tag
Im Lagerraum hinter seinem Büro entwickelte Osip Feinstein die Fotos, die er geschossen hatte, mit dem großen Jesse Austin neben der jungen Russin und den zerwühlten Bettlaken im Hintergrund, die eine sexuelle Begegnung zwischen den beiden zu bezeugen schienen. Es wäre noch besser gewesen, wenn Jesse ihr eine Hand auf den Arm gelegt hätte, nicht umgekehrt. Aber auch so weckte es schmutzige Fantasien. Wen man auf dem Foto nicht sah, war Austins Frau. Sie stand außerhalb des Kamerawinkels. Es würde auch niemand wissen, dass das Bett bereits zerwühlt gewesen war, als das Mädchen hereinkam. Wer ein Urteil fällen wollte, würde sich nicht damit aufhalten, das Foto unter die Lupe zu nehmen; man würde spontan empört reagieren. Die Rollen von Bösewicht und Opfer waren klar verteilt. Obwohl das Treffen vollkommen unschuldig abgelaufen war, sprach aus dem Bild deutlich Schuld und Verkommenheit –
Weitere Kostenlose Bücher