Agent 6
Woche zuvor war ihnen das Holz ausgegangen, und sein Vater hatte ihn ausgeschimpft, er würde im Haus nicht helfen. Jesse wollte nicht noch einmal ausgeschimpft werden, also zog er lieber los, um neues Holz zu suchen. Er konnte recht leicht Brennholz sammeln, weil alles auf dem Waldboden trocken wie Stroh war. Die Borke fühlte sich rau an. Zweige zerbrachen unter seinen Füßen, das Knacken des trockenen Holzes hallte zwischen den Bäumen wider. Seiner Familie gegenüber hätte er es nie eingestanden, aber er hatte sich immer vor dem Wald gefürchtet – seine Fantasie ging mit ihm durch, sein Verstand gaukelte ihm etwas vor. Er sagte sich, er sei albern. Manchmal sprach er es sogar laut aus.
– Du musst keine Angst haben, Jesse. Im Wald gibt es Käfer und Moskitos, sonst nichts.
Aber als er ausgesprochen hatte, hörte er immer noch Stimmen. Er schüttelte den Kopf, als hätte er Wasser in den Ohren. Die Stimmen sprachen weiter, nicht nur eine, sondern zwei oder drei.
– Du hast das falsch gemacht!
– So geht das!
– Stell dich da hin.
– Hilf mir mal.
– So passt es.
– Mach die Kamera fertig.
Jesse ging in eine Richtung weiter, tiefer in den Wald hinein. Die Stimmen wurden leiser. Also schlug er eine andere Richtung ein, zurück zum Waldrand. Die Stimmen wurden lauter. Er hätte nach Hause laufen sollen. Er hätte sein Bündel Zweige fallen lassen und weglaufen sollen, aber er ging weiter und folgte den Geräuschen.
Als Jesse den Waldrand erreichte, nicht weit von der Stadt entfernt, entdeckte er überrascht eine große Ansammlung von Menschen. Überrascht war er, weil seine Eltern ihm so eindringlich befohlen hatten, an diesem Abend im Haus zu bleiben, während so viele Menschen offensichtlich das Gegenteil taten. Alle in der Menge wandten ihm den Rücken zu, sie hatten sich zu einem Halbkreis aufgestellt, vielleicht hundert Personen insgesamt, weniger eine Ansammlung, dachte er, und eher ein Publikum. Die Leute hinten und am Rand hielten brennende Äste hoch, flackernde Laternen, Bühnenlichter, die rotglühende Holzsplitter in den Nachthimmel spuckten. Sie brauchten die Leuchten, weil der Mond kaum Licht spendete, nur ab und an einen Schimmer, wenn sich die schweren Wolken aus dem Weg schoben. Jesse fiel auf, dass die Leute gut gekleidet waren. Die Frauen trugen frisch gestärkte Kleider, die jungen Mädchen auch. Die Männer hatten die Hemden in die Hosen gesteckt. Sie sahen aus, als hätten sie sich für die Kirche oder fürs Theater zurechtgemacht. Einige fächelten sich mit Strohhüten Luft zu, die Damen verscheuchten Moskitos mit zierlichen Bewegungen ihrer zierlichen Finger. Auf den Rücken hatten sie Schweißflecken, und Jesse dachte, dann wären sie doch nicht so anders als er.
Sie hatten den kleinen Jesse nicht bemerkt, der still hinter einem breiten Baumstamm stand, die Arme voller Holz, mit Blättern im Haar und so dreckiger Kleidung, als wäre sie aus dem Laub des Waldbodens gefertigt. Das Publikum beobachtete gebannt, was sich vor ihm abspielte, doch Jesse konnte sich nicht vorstellen, was so tief im Wald derart unterhaltsam sein sollte. Er wusste, dass sich ein Publikum zusammenfand, wenn etwas Unterhaltsames geschah, wenn jemand singen oder tanzen oder etwas vorführen wollte. Er war zu klein, um zu sehen, was vorne passierte, und er wagte nicht, hinter dem Baum hervorzukommen, weil das Publikum nur aus Weißen bestand und es nicht klug wäre, sich einzumischen.
Als wäre plötzlich ein Zauber ausgesprochen worden, blickten jeder einzelne Mann, jede Frau und jedes Kind im Publikum genau im gleichen Moment nach oben in die Bäume. Jesse sah auch nach oben, er hoffte auf ein Feuerwerk, eine Explosion funkelnder Sterne. Stattdessen sah er, weswegen sich dieses Publikum zusammengefunden hatte – es war ein Tanz, zwei Beine, die im Himmel tanzten, ein zuckender Tanz, wie er ihn noch nie gesehen hatte, bei dem die beiden schwarzen, nackten Füße nicht den Boden berührten, ein Tanz ohne Rhythmus und ohne Musik, ein stummer Tanz, der nach ein oder zwei Minuten vorüber war.
Als die Beine ihren Tanz beendet hatten, hatte Jesse alle Zweige in seinen Armen zerdrückt, seine Schuhe waren mit zerbrochener Borke bedeckt. Ein Mann aus dem Publikum streckte eine klobige, kastenförmige Kamera nach oben, dann zuckte ein Blitzlicht grell auf und zeigte alles, was die Nacht verborgen hatte. Jesse fragte sich immer noch, warum dieser Mann bis zum Ende gewartet hatte, um sein Foto zu
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