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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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tun, an das du glaubst.
    – Anna, was ist los?
    Sie sah aus, als wäre sie den Tränen nahe. Es war nur ein kurzer Moment, ein Gefühl, das über ihr Gesicht huschte, dann hatte sie sich wieder im Griff. Anna weinte nie.
    – Ich bin spät dran, das ist alles.
    – Dann vertue nicht noch mehr Zeit mit Sorgen um mich.
    Anna gab ihm einen Kuss auf die Wange, aber statt danach zurückzuweichen, blieb sie nah bei seinem Gesicht und flüsterte:
    – Ich liebe dich.
    Die drei Wörter waren in diesem Moment zu viel für ihn. Jesse blickte zu Boden, seine Stimme klang brüchig.
    – Es tut mir leid, Anna. Die vielen Probleme, das alles …
    Sie lächelte.
    – Jesse Austin, entschuldige dich ja nicht bei mir, nicht für das, was die anderen getan haben, nicht für etwas, das nie deine Schuld war.
    Sie küsste ihn noch einmal.
    – Sag mir einfach, dass du mich liebst.
    – Manchmal habe ich das Gefühl, das reicht einfach nicht.
    – Aber das war alles, was ich je wollte.
    Sie ließ ihn los, strich ihre Kleidung glatt, dann öffnete sie die Tür und lief die Treppe hinunter, ohne sich umzusehen und ohne die Tür hinter sich zu schließen.
    Jesse wartete am Fenster. Anna tauchte unten auf der Straße auf und schlängelte sich auf dem Weg zum Restaurant zwischen den Kartentischen hindurch. Als sie gerade noch zu sehen war, blieb sie stehen, drehte sich um und winkte ihm zu. Er winkte zurück, und als er die Hand sinken ließ, war sie verschwunden.
    Er musste sich bald entscheiden. Er sah auf die Uhr. Ihm blieb nur noch eine Stunde, bis er vor einer Gruppe unbekannter Demonstranten reden sollte. Er wusste nicht einmal, wofür oder wogegen sie demonstrieren wollten. Höchstwahrscheinlich würden sie ihn nicht einmal erkennen, und er würde Mühe haben, sich Gehör zu verschaffen. Das Konzert begann um neun Uhr. Der jungen Russin zufolge dauerte es nur siebzig Minuten. Jesse tippte gegen das Glas der schicken Armbanduhr, die er in besseren Zeiten gekauft hatte. Als er überlegte, ob er der Einladung folgen sollte, schob sich die Erinnerung an eine andere Uhr in seine Gedanken, an eine Uhr, die er nie getragen hatte. Er hatte sie zu Beginn seiner Karriere während seiner ersten landesweiten Tournee geschenkt bekommen. Der Manager des Konzertsaals hatte sich über den unerwarteten Erfolg – drei ausverkaufte Veranstaltungen in Monroe, Louisiana – so gefreut, dass er Jesse ein Geschenk überreichte: Ein hübsches Kästchen mit einer schön gearbeiteten Uhr darin. Auf der Rückseite des Lederarmbands war Made in Monroe eingeprägt. An die Uhr selbst konnte sich Jesse nicht mehr genau erinnern, dafür aber an den Manager. Der Mann hatte nach dem letzten Auftritt an seine Garderobe geklopft und sich so heimlich wie eine Geliebte hereingeschlichen. Anna war ebenfalls dabei gewesen und hatte gesehen, wie der nervöse Manager Jesse die Uhr als Zeichen seiner Dankbarkeit überreichte und dann schnell wieder verschwand. Jesse hatte über das seltsame Benehmen dieses freundlichen Mannes gelacht, bis er bemerkt hatte, dass Anna nicht lachte. Sie hatte erklärt, dass der Mann zwar seine Dankbarkeit beweisen wollte, es aber nicht in der Öffentlichkeit tun konnte. Er konnte nicht nach der Show auf die Bühne kommen und Jesse die Uhr geben. Er konnte sie nicht zum Abendessen einladen, weil ihn niemand zusammen mit Jesse und Anna in einem Restaurant sehen sollte. Der Mann konnte Jesse anheuern, um zu singen, er konnte ihm auch applaudieren, aber sobald Jesse die Bühne verließ, wollte der Mann sich nicht mehr in seiner Nähe blicken lassen. Die Uhr war gut, sie war hübsch, besonders für einen jungen Mann, der noch nicht viel Geld verdient hatte, trotzdem hatte Jesse sie nicht behalten. Er hatte sie in der Garderobe liegen lassen, zusammen mit einem Zettel:
    Ein Abendessen hätte völlig gereicht.
    Für diesen Saal war er nie wieder gebucht worden.
    Jeder konnte einen Menschen lieben, solange er singend und tanzend auf einer Bühne stand. Diese Lektion hatte Jesse schon mit sieben Jahren gelernt. Er hatte mit seiner Familie in Braxton in Mississippi gelebt, bevor sie beschlossen hatten, in den Norden zu ziehen. An einem Abend im Herbst 1914 war es so heiß, dass Jesses Hemd nach gerade einmal hundert Schritten so durchnässt war, als hätte ihn eine Regenwolke auf Schritt und Tritt verfolgt. Er hatte seinen Eltern versprechen müssen, im Haus zu bleiben, während sie zur Arbeit gehen und ihn allein lassen mussten. Aber in der

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