Agent 6
seine Freundlichkeit gab Anna ihm einen Kuss auf die Wange.
– Danke.
Sie nahm ihre Schürze ab, verließ das Restaurant und lief so schnell, wie sie konnte. Sie rannte den ganzen Weg, bis sie zu Hause war, quer über die Straße, zwischen den Männern an ihren Kartentischen hindurch, durch den Zigarettendunst, bis zu der Treppe ihres Hauses. Auf dem Weg nach oben, auf dem sie je zwei Stufen auf einmal nahm, spürte sie die Blicke der Nachbarn. Anna tat ihnen leid, sie dachten, sie würde wegen Jesse leiden. Sie irrten sich. Sie war die glücklichste Frau der Welt, weil sie ihr Leben mit ihm teilen durfte.
Sie riss die Wohnungstür auf. Jesse stand auf dem Bett und sprach zu dem offenen Fenster, als wären dort zehntausend Zuhörer. Zu seinen Füßen waren handgeschriebene Seiten von allen Reden, die er je gehalten hatte.
Manhattan
Hauptsitz der Vereinten Nationen
Saal der UN-Vollversammlung
First Avenue & East 44th Street
Am selben Tag
Jim Yates schlüpfte in den hinteren Teil des Saals. Mit verschränkten Armen sah er sich den Auftritt an, Kommunisten zusammen mit amerikanischen Schülern, beide Gruppen in identischer Kleidung: die Jungen mit weißen Hemden und schwarzen Hosen, die Mädchen in weißen Blusen und schwarzen Röcken, ohne einen Unterschied zwischen den Nationalitäten. Dem gedruckten Programm zufolge, das von einer Vielzahl internationaler Flaggen eingerahmt wurde, hatten Musiker aus der ganzen Welt die Lieder komponiert. Nicht einmal die liberalen Organisatoren dieser Veranstaltung konnten so weit gehen und kommunistische Propagandalieder zulassen, sowjetische Hymen darüber, dass man die stärkste Nation der Welt und bereit sei, jeden Feind niederzuschmettern, sogar Amerika. Diese Lieder würden sich die Kommunisten aufheben, bis sie wieder zu Hause waren, bis sie in Moskau aus dem Flugzeug stiegen. Weil die Russen ihre Lieder nicht singen duften, galt das auch für die Amerikaner, weil man die Gäste nicht beleidigen wollte. In ihrem eigenen Land durften sie ihre eigenen Lieder nicht singen! Aber natürlich war das hier nicht sein Land – das Gelände des UN -Hauptsitzes unterstand nicht den Vereinigten Staaten, obwohl es mitten in New York lag. Ohne jede Gegenwehr hatte man das Land einer internationalen Organisation übergeben. Yates war hier nicht einmal FBI -Agent. Er war nur Gast.
Als alle Lieder gesungen waren und das Publikum applaudierte, betrachtete Yates die Diplomaten. Die Weißen schienen in der Minderheit zu sein. Einige Abgesandte standen auf, um zu applaudieren. Von seinem Standort aus konnte Yates sie nicht deutlich erkennen – wahrscheinlich Kubaner oder Südamerikaner. Während die Schüler Arm in Arm auf der Bühne sangen, plante ihr jeweiliges Land in Wahrheit, das andere zu vernichten. Die ganze Veranstaltung war eine groteske Farce. Er war entsetzt, dass amerikanische Eltern ihren Kindern erlaubt hatten, an diesem Konzert teilzunehmen. Diese Mütter und Väter sollte man sich mal näher ansehen.
Yates blickte auf die Uhr und klopfte mit einem Fingernagel gegen das Uhrenglas. Die wahre Darbietung des Abends würde gleich draußen stattfinden.
Manhattan
Vor dem Hauptsitz der Vereinten Nationen
First Avenue & East 44th Street
Am selben Tag
Jesse Austin erreichte das UN -Gebäude, in der Hand eine Apfelkiste aus Nelsons Restaurantküche. Er hatte schon früher an Straßenecken gesprochen und wusste, dass er ohne einen erhöhten Stand keine Chance hatte, gehört zu werden, nicht einmal bei seiner Statur und als geübter Redner. Jeder Darsteller brauchte eine Bühne, und selbst eine Apfelkiste war besser als der Gehweg. Beim Verlassen der U-Bahn, in der er sich mit der Kiste zwischen den Fahrgästen hindurchgedrängt hatte, sah er, dass ein Teil der First Avenue für den Verkehr gesperrt war. Aber ohne die Autos wirkte die Atmosphäre nicht gedämpfter, es wurde nur der Eindruck unterstrichen, die Demonstration sei etwas Außergewöhnliches. Vor dem UN -Gebäude hatten sich Hunderte von Menschen versammelt, viel mehr, als Jesse erwartet hatte. Anna griff nervös nach seiner freien Hand.
Polizisten hatten um die Demonstranten herum einen Halbkreis gebildet. Einige trugen ihre komplette Schutzausrüstung, manche patrouillierten auf Pferden auf und ab. Die Tiere schnaubten, als würden sie sich über den Mob empören. Eingekesselt wie eine Herde Vieh reckten die Demonstranten grelle Spruchbänder aus Bettlaken und Holzlatten in die Luft, knallige Farben vermischten sich
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