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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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machen. Vielleicht hatte er keinen Moment von diesem unterhaltsamen Tanz verpassen wollen.
    Als die junge Russin ihn vorhin gefragt hatte, warum er für den Kommunismus so viel geopfert hatte, oder wenn ihn Fremde, Freunde und Familienmitglieder gefragt hatten, warum er nicht endlich den Mund halten und das Geld genießen konnte, hatte er nie die Wahrheit gesagt. Was hatte aus Jesse einen Kommunisten gemacht? Es war nicht der Hass, den seine Familie nach dem Umzug nach New York erfahren hatte, oder all die Beleidigungen, die er je gehört hatte. Es waren nicht die Armut oder die Mühen, die seine Eltern auf sich nahmen, um über die Runden zu kommen. Als er bei seinem ersten großen Konzert auf der Bühne stand, vor vollem Haus, und in den Halbkreis aus gut gekleideten Weißen sah, die klatschten, während er tanzte und sang – das Publikum liebte ihn –, wusste er, dass es ihn nur liebte, während sich seine Beine im Rhythmus bewegten und Lieder über seine Lippen kamen, aber keine Reden. Wenn der Auftritt vorüber war, wenn seine Beine nicht mehr tanzten, wollten sie nichts mehr mit ihm zu tun haben.
    Auf der Bühne geliebt zu werden war nicht genug. Zu singen war längst nicht genug.

Manhattan
Hauptsitz der Vereinten Nationen
Saal der UN-Vollversammlung
First Avenue & East 44th Street
Am selben Tag
    Im Publikum hatten sich die wichtigsten Diplomaten der Welt versammelt – alle UN-Abgesandten waren eingeladen. Der Versammlungssaal war vollbesetzt, und das Konzert sollte gleich beginnen. Wie ein Kind vor einer Schulaufführung warf Raisa hinter der Bühne einen verstohlenen Blick in den Saal und fragte sich, ob ihre Nervosität mittlerweile an Paranoia grenzte. Ihre Fantasie war mit ihr durchgegangen, und sie fühlte sich an früher erinnert, als überall Gefahr und Intrigen gelauert hatten. Nicht ihre Kleidung hatte sie provinziell wirken lassen, sondern die Panik, in die sie verfallen war, weil man ihr eine so große Bühne bereitet hatte. Es war ihr peinlich, dass sie sich so benommen hatte. Bei der Kostümprobe war alles glattgelaufen, und das hatte sie ruhiger und sicherer werden lassen und ihr das nötige Augenmaß zurückgegeben. Ihren Ausbruch von vorhin fand sie mittlerweile selbst albern.
    Sie betrachtete die sowjetischen Schülerinnen und Schüler: Alle hatten sich in einer Reihe aufgestellt und warteten darauf, die Bühne zu betreten. Raisas Aufgabe war es, sie zu beruhigen, nicht selbst nervös zu werden. Sie ging an jedem Schüler mit einem Lächeln und aufmunternden Worten vorbei und kam schließlich zu Elena. Seit ihrem Streit hatten sie kaum miteinander gesprochen. Raisa hatte widerstrebend nachgegeben und Elena erlaubt mitzusingen. Sie hatte befürchtet, Elena würde andernfalls Leo die Schuld geben und ihn hassen. Trotzdem hielt sich eine unbehagliche Stimmung. Raisa bückte sich und flüsterte:
    – Für mich ist das auch alles neu. Der Druck war einfach zu viel. Es tut mir leid. Du wirst großartig sein, das weiß ich. Ich hoffe, du kannst den Abend genießen. Hoffentlich habe ich ihn dir nicht verdorben, das hätte ich nicht gewollt.
    Elena weinte. Raisa wischte rasch die Tränen ihrer Tochter fort.
    – Nicht weinen, bitte. Sonst fang ich auch gleich an.
    Mit einem Lächeln überspielte Raisa, dass sie selbst den Tränen nah war, und fügte hinzu:
    – Es ist meine Schuld, nicht Leos. Sei nicht böse auf ihn. Denk einfach nur an den Auftritt. Der Abend wird schön, genieß ihn.
    Als Raisa wieder nach vorne zu den anderen Schülern gehen wollte, hielt Elena sie an der Hand fest und sagte:
    – Ich würde nie etwas tun, weswegen du nicht stolz auf mich sein könntest, Mutter.
    Die Anrede Mutter hatte sie bewusst gewählt. Aus Sorge, sich nicht beherrschen zu können, antwortete Raisa nur:
    – Ich weiß.
    Dann lief sie zurück an ihren Platz, sammelte sich und bereitete sich darauf vor, ihre Schüler auf die Bühne zu führen. Sie atmete tief durch. Der Auftritt musste ein Erfolg werden. Es war für sie ein denkwürdiger Tag. Vor vielen Jahren, während des Großen Vaterländischen Krieges, hatte sie einfach nur überleben wollen. Als Lehrerin in Moskau unter Stalins Herrschaft war ihr einziges Ziel gewesen, nicht verhaftet zu werden. Wäre Raisa in der Zeit zurückgereist und hätte dieser verängstigten, jungen Frau einen Blick auf ihre Zukunft gezeigt – vor einem erlauchten Publikum in diesem erstaunlichen Saal mit zwei wunderschönen Töchtern an ihrer Seite –, hätte sie

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