Agent 6
es niemals glauben können. Sie wünschte nur, Leo könnte bei ihr sein, nicht wegen irgendeines Komplotts oder Verrats – sie bereute bitter, dass sie ihm diese Idee eingeflüstert hatte –, sondern weil niemand sonst begriff, welchen Weg sie zurückgelegt hatte.
Ihr musikalischer Einsatz ertönte, das Orchester war bereit. Im Publikum wurde es still. Zusammen mit der amerikanischen Schulleiterin führte Raisa ihre Schüler auf die Bühne. Es erklang höflicher und, wie Raisa spürte, ein wenig unsicherer Applaus. Niemand wusste wirklich, wie dieser beispiellose Auftritt enden würde.
*
Während Elena die Bühne betrat, beruhigte sie sich damit, dass sie nicht gelogen hatte: Ihre Mutter würde bestimmt stolz auf sie sein, wenn sie begriff, was Elena erreichen wollte – Jesse Austin zu zeigen, dass er geliebt und bewundert wurde, ein wichtiges Zeichen für einen Mann, den man zu Unrecht wegen seiner Überzeugungen verfolgt hatte, einen brillanten Mann, der vom Staat unterdrückt und niedergeknüppelt wurde, weil er an Gerechtigkeit und Liebe glaubte. Natürlich würde Raisa erst einmal böse werden, weil Elena es geheim gehalten hatte. Sie würde wütend sein, weil man ihr nichts gesagt hatte. Aber wenn ihre Wut erst einmal verraucht wäre, würde sie es bestimmt verstehen, vielleicht würde sie Elena sogar für ihren Mut bewundern.
Als sie den Saal betrachtete, die Dekorationen, die Flaggen und das elitäre Publikum, den Politikadel in seiner feinen Kleidung, fand Elena das ganze Spektakel oberflächlich, ohne jeden Bezug zu echten Problemen oder Sorgen. Das Konzert versprach weder einen gesellschaftlichen Wandel noch Fortschritt, es war steril, gesäubert von jedem bisschen Wut oder Empörung, um ihre Gastgeber nicht zu beleidigen. Die Proteste auf der Straße würden sich nicht gegen irgendeine Regierung richten, sie würden gegen Intoleranz und Hass im Allgemeinen sein, gegen Ungleichheit und unmenschliche Behandlung. Die Welt brauchte eine zweite Revolution, eine Revolution der Bürgerrechte. Der Kommunismus war das beste Instrument für diese Revolution. Wie sollte Raisa da nicht stolz auf das sein, was sie und Jesse Austin erreichen würden? Dann verklang der Applaus.
Harlem
Bradhurst
Eighth Avenue & West 139th Street
Nelson’s Restaurant
Am selben Tag
Das Restaurant, mit günstigen Preisen und stets gut besucht, war nach seinem Besitzer Nelson benannt, den viele in der Gegend hier sehr mochten. Er war ein fairer Chef und wusste immer, ob er mit den Gästen Witze reißen oder sich ihre Probleme anhören sollte. Anna kannte niemanden, der ein solches Gespür dafür besaß, was ein Mensch brauchte. Als sie dringend Geld verdienen musste und eine Stelle suchte, hatte er ihr geholfen. Er hätte eine Frau in ihrem Alter ohne Erfahrung nicht einstellen müssen, solange es jüngere, hübschere Mädchen gab, die mit den Gästen flirten und vielleicht das Geschäft ankurbeln konnten. Anna revanchierte sich für diesen Gefallen, indem sie ihn nie enttäuschte, nie zu spät kam oder sich zu früh wegstahl. Sie erzählte jedem, er sei mit ihr ein Risiko eingegangen, ohne die Konsequenzen zu fürchten. Den Gästen gefiel, dass Nelson sie eingestellt hatte; vielleicht hatte er das geahnt. Am Ende machte das FBI gar keinen Ärger, nicht so wie bei Jesse. Anna vermutete, dass den Agenten die Vorstellung gefiel, wie sie Teller spülte und Tabletts abwischte. Aber wenn sie glaubten, harte Arbeit wäre eine Demütigung, täuschten sie sich.
Als sie das Restaurant betrat und sich auf ihre Schicht vorbereitete, wurde ihr mit einem Mal klar, dass Jesse die Einladung der jungen Frau annehmen würde. Wie viele gute Gründe es auch dafür gab, nicht vor dem UN -Gebäude zu sprechen, hörte sich eine Rede vor Demonstranten auf offener Straße doch ganz nach einem Auftritt für Jesse Austin an. Sie konnte ihn dabei nicht allein lassen.
Anna lief zu Nelson und nahm seinen Arm.
– Ich habe so was noch nie gemacht, das wissen Sie, und ich werde es auch nie wieder tun. Aber ich muss nach Hause gehen. Ich kann heute Nacht nicht arbeiten. Ich muss bei meinem Mann sein.
Nelson blickte ihr in die Augen, sah ihren Gesichtsausdruck, hörte ihren Tonfall und nickte.
– Stimmt etwas nicht?
– Nein, alles in Ordnung. Aber mein Mann muss etwas tun, und ich muss bei ihm sein.
– Ist gut, Anna. Tun Sie, was Sie tun müssen. Machen Sie sich keine Gedanken über den Laden hier, notfalls serviere ich das Essen selbst.
Für
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