Agent 6
zu einem bunten Bild aus verschiedenen Materialien. Mit ihren einzeln und ungleichmäßig ausgeschnittenen Buchstaben besaßen manche Spruchbändern eine kindliche Naivität. Anhand der Parolen schloss Jesse, dass sich die Demonstration aus ganz unterschiedlichen Gruppen zusammensetzte. So etwas hatte er in New York noch nie gesehen – Demonstranten gegen den Vietnamkrieg mit Gitarren und Trommeln direkt neben adretten Männern und Frauen mit gestärkten Hemden und Blusen, die gegen die Kommunistische Partei protestierten. Einige forderten auf ihren Plakaten, Ungarn von der Sowjetherrschaft zu befreien, andere bemühten den abgenutzten Spruch:
NUR EIN TOTER ROTER
IST EIN GUTER ROTER
Er war so oft zu sehen, dass Jesse sich fragte, ob den Leuten nichts anderes einfiel – und er machte Jesse noch entschlossener, seine Rede zu halten. Je mehr sie ihn bedrohten, desto stärker wurde er: Das hatte er immer geglaubt.
Er kam zu spät, um sich eine der exponierteren Stellen zu sichern, sie waren bereits besetzt. In der Nähe des Haupteingangs, wohin Elena ihn gebeten hatte, war kein Platz mehr. Er und Anna würden sich mit dem anderen Ende der Demonstration zufriedengeben müssen, mit den Ausläufern der Menge, statt direkt in der Mitte zu stehen. Das war alles andere als ideal, und Jesse ärgerte sich über sich selbst, weil er nicht früher hergekommen war. Als sie an den Demonstranten vorbeigingen, rief jemand:
– Jesse Austin!
Als Jesse sich umdrehte, sah er neben dem Tor einen Mann, der ihn herüberwinkte. Er und Anna folgten der Aufforderung, obwohl sie den Mann nicht kannten. Er war jung und lächelte sie freundlich an.
– Der Platz hier ist für Sie! Ich habe ihn freigehalten!
Die Stelle lag neben dem Haupteingang, wie Elena gebeten hatte. Der Mann nahm Jesse die Kiste ab und hob sie über die Absperrung. Nachdem er getestet hatte, ob sie stabil genug war, blickte er zu Jesse auf.
– Klettern Sie rüber!
Jesse lachte.
– Vor dreißig Jahren vielleicht.
Mit Anna an der Hand schob er sich langsam durch die Menge, bis er die Kiste erreichte. Der junge Mann verteidigte die provisorische Bühne gegen andere Demonstranten, die offensichtlich auch etwas zu sagen hatten. Als er Jesse sah, legte er ihm eine Hand auf die Schulter.
– Das ist Ihr Moment. Geben Sie ihnen alles! Halten Sie sich nicht zurück!
Jesse schüttelte ihm die Hand.
– Wer sind Sie?
– Ein Freund. Sie haben viel mehr Freunde, als Sie glauben.
Am selben Tag
Yates verließ schon vor dem Ende des Konzerts das Gebäude der Vereinten Nationen und betrachtete die lärmenden Demonstranten. Normalerweise hätte man ihnen nicht erlaubt, sich so nah am Hauptsitz zu versammeln, man hätte sie in den Ralph Bunche Park oder auf die Dag Hammarskjöld Plaza an der Ecke 47th Street und First Avenue geschickt, einen Block vom Besuchereingang entfernt und vier Blocks von dem Eingang, den die hochrangigen Diplomaten benutzten. Eine Demonstration erstmals in solcher Nähe zu den Vereinten Nationen zuzulassen hatte symbolische Gründe. Man wollte zeigen, dass Amerika, im Gegensatz zur Sowjetunion, von offener Kritik nichts zu befürchten hatte. Und dort drüben stand er – Jesse Austin war gekommen und nahm die Rechte wahr, die dieses Land ihm einräumte, das Recht auf freie Rede, das in dem Land, das er so in den Himmel hob, nicht existierte.
Als Yates auf die Straße trat, sah er, wie ein Polizist in Uniform auf Austin zuging, ihn bei seiner Rede unterbrach und auf die Kiste zeigte, auf der er stand. Yates lief hinüber, packte den Einsatzleiter am Arm und rief ihm über den Lärm zu:
– Rufen Sie Ihren Officer zurück! Niemand vertreibt Jesse Austin!
– Wer ist Jesse Austin?
Der Name sagte dem Polizisten nichts. Yates freute sich.
– Der große Mann da drüben, der Neger, der auf der Kiste steht! Er bleibt, wo er ist!
– Er darf nicht so hoch stehen, nicht so nah am Eingang.
Yates wurde wütend.
– Ihre Vorschriften sind mir egal. Jetzt hören Sie mal zu! Sie dürfen diesen Mann nicht von dort wegholen. Die Sowjets haben ihn eingeladen, weil sie hoffen, wir würden ihn vertreiben. Wenn wir das versuchen, wehrt er sich, und wir landen auf jeder Titelseite, wie wir ihn wegzerren. Genau das will er! Deshalb ist er hier! Er ist ein bekannter Kommunistenfreund, ein beliebtes Aushängeschild der Neger. Ein Foto, auf dem fünf weiße Polizisten einen alten Negersänger wegschleppen, können wir nicht gebrauchen. Wir stecken
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