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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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mitten in einem Propagandakrieg. Ich will nicht, dass heute Abend Gewalt eingesetzt wird. Egal womit Sie provoziert werden. Haben Sie verstanden? Niemand schafft diesen Mann weg!

Am selben Tag
    Jesse konnte kaum glauben, dass der Polizist nachgab und wegging, während er auf der Kiste stehen bleiben durfte. Er warf einen Blick auf Anna. Sie wirkte genauso überrascht darüber, dass die Auseinandersetzung mit einem leichten Sieg geendet hatte. Wegen der anwesenden Presse hatte die Polizei offenbar den Befehl, sich zurückzuhalten. Eine taktische Entscheidung, um die Redefreiheit in Amerika vor Augen zu führen – eine Entscheidung voller Zynismus, aber wenn ihm Redefreiheit gewährt wurde, und sei es für einen einzigen Auftritt, würde er sie nutzen.
    Mit Hilfe der Apfelkiste konnte er die ganze Demonstration überblicken, Hunderte von Gesichtern, einige zu Blumen geschminkt, andere verzerrt vor Wut und Empörung. Jesse begann zu reden, schüchtern zu Anfang und mit seiner Frau als einziger Zuhörerin, nicht einmal die Leute direkt vor der Kiste hörten zu. Er glich weniger einem Redner als einem verrückten alten Mann, der Selbstgespräche führte.
    – Ich bin heute Abend hier …
    Der erste Satz kam zögerlich, er wusste nicht, ob er improvisieren oder vorlesen sollte, was er sich notiert hatte. Als er sich für den Text entschieden hatte, den er in seiner Wohnung aufgeschrieben hatte, ignorierte er nach Kräften, dass niemand auf ihn achtete, und konzentrierte sich auf einen festen Punkt in der Menge. Er tat so, als stünde er wieder auf der großen Bühne vor Tausenden von zahlenden Zuhörern. Aber das ständige Trommeln der Antikriegsdemonstranten brachte ihn aus dem Rhythmus. Seine Rede geriet durcheinander, er unterbrach sich mitten in einem Gedanken und fuhr mit einem anderen fort. Dann hielt er wieder inne, kehrte zu seinem vorigen Gedanken zurück und fragte sich dabei, ob es etwas ausmachen würde, ob er Russisch oder Englisch sprach, weil ohnehin niemand zuhörte. Als er den Mut verlor, spürte er, wie Anna seine Hand nahm. Er blickte zu ihr hinunter. Sie drückte seine Hand und riet ihm:
    – Sag einfach, was du fühlst. Rede zu ihnen, wie du mit mir redest, aus dem Herzen heraus. Deshalb haben die Menschen dir immer zugehört. Weil du nie lügst, weil du nie etwas vortäuscht, du sagst immer nur, was du auch wirklich glaubst.
    Jesse blendete den Lärm der Trommeln aus, hob die Hand und setzte an zu sprechen. Bevor er etwas sagen konnte, rief jemand seinen Namen, ein Mann, ein älterer Kriegsgegner mit struppigem Bart, einer Gitarre um den Hals und sehnigen Armen. Auf seine nackte Brust war ein rotes Friedenssymbol gemalt.
    – Jesse Austin!
    Vor lauter Überraschung, dass ihn jemand erkannte, vergaß Jesse, was er sagen wollte. Bevor er sich erholt hatte, schob sich der Demonstrant bis zu ihm durch, schüttelte ihm die Hand und sagte:
    – Ich liebe deine Musik. Sag mal, Jesse, haben sie Malcolm X umgebracht, weil er gegen den Vietnamkrieg war? Ich glaube, ja. Sie bringen jeden um, der gegen diesen Krieg ist. Malcolm X hat gesagt, die Afroamerikaner sollten die Vietnamesen unterstützen, nicht die amerikanischen Soldaten, und bestimmt haben sie ihn deshalb erschossen, glaubst du nicht auch? Wen unterstützt du? Die Vietnamesen oder die Amerikaner?
    Malcolm X war Anfang des Jahres erschossen worden. Auch Jesse war der Gedanke gekommen, dass hinter seinem Mord mehr steckte, als man dachte. Es war bequem, der Nation of Islam die Schuld zu geben, und bei bequemen Erklärungen lag die Wahrheit normalerweise woanders. Als Jesse gerade antworten wollte, rief der alte Mann seinen Freunden zu:
    – He! Jesse Austin ist hier!
    Die Demonstranten hatten zwar nicht reagiert, als sie ihn auf einer Kiste stehen sahen, aber als sie seinen Namen hörten, wurden sie aufmerksam und drehten sich um. Aus der antikommunistischen Gruppe schrien ihn Leute an, die Stimmen rau vor Abscheu.
    – Wieso haben Sie gesagt, Amerika wäre nicht Ihre Heimat!
    – Sie haben gesagt, Sie würden gerne gegen amerikanische Truppen kämpfen!
    Der alte Friedensdemonstrant zwinkerte Jesse zu.
    – Pass lieber auf, was du sagst.
    Jesse rief zurück:
    – So etwas habe ich nie gesagt! Ich glaube an Frieden, nicht an Krieg.
    Die erste Anschuldigung hatte einen Damm brechen lassen, und weitere bösartige Lügen, jede extremer als die vorige, strömten aus der Gruppe der antikommunistischen Demonstranten. Sie kannten Jesse besser als

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