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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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alle anderen, für sie war er eine Zielscheibe für Hass und Spott.
    – Stimmt es nicht, dass Sie viele weiße Mädchen verführt haben?
    – Warum zahlen Sie keine Steuern?
    – Waren Sie nicht im Gefängnis?
    – Sie betrügen doch Ihre Frau, oder?
    – Und Sie schlagen sie, wenn Sie betrunken sind, das habe ich gehört!
    Jesse konnte die Gesichter seiner Ankläger nicht immer sehen, ihre Stimmen waren nicht zuzuordnen. Mit Mühe hielt er seine Wut im Zaum, anders als seine Ankläger, und antwortete auf die Vorwürfe.
    – Ich zahle Steuern! Ich habe keinen einzigen Tag im Gefängnis verbracht, außer um Menschen zu besuchen, die Hilfe brauchten. Und ich habe nie ein weißes Mädchen angerührt, nicht so, ich würde auch nie jemanden schlagen, schon gar nicht meine Frau, den Menschen, den ich am meisten liebe. Was Sie da sagen, sind nur Verleumdungen! Eine üble Kampagne voller Hass und Lügen!
    Seine Stimme zitterte. Diese Lügen ließen Schmerz in ihm aufsteigen, die Erinnerung daran, wie er hilflos mit ansehen musste, wie sein Ruf zerstört wurde.
    Anna merkte, dass er Probleme bekam, kletterte zu ihm auf die Kiste und schlang ihm einen Arm um die Taille, um sich festzuhalten.
    – Würde ich hier neben meinem Mann stehen, wenn das wahr wäre? Hätte ich dann zu ihm gehalten, als die Regierung uns unser Zuhause weggenommen hat? Als sie uns die Arbeit genommen hat? Als sie uns das Geld und das Essen vom Tisch genommen hat? Wir haben alles verloren. Sie haben sich bereitwillig die Lügen angehört. Jetzt will ich Ihnen ein paar Tatsachen sagen. Jesse hat keiner Menschenseele je geschadet. Er war nie in eine Schlägerei verwickelt. Er ist mir gegenüber nie laut geworden! Und was den Krieg betrifft, würde er nie daran denken, eine Waffe gegen jemanden zu richten. Er glaubt nicht an Gewalt. Er glaubt an die Liebe! Er glaubt stärker an die Liebe als an alles andere! Er glaubt an Gerechtigkeit für jeden Mann und jede Frau, unabhängig von Herkunft und Hautfarbe. Sie können an andere Dinge glauben, wenn Sie wollen. Sie können uns sagen, unsere Vorstellungen wären dumm. Aber sagen Sie uns nicht, wir würden uns nicht lieben.
    Als sie von der Kiste stieg, sah Jesse, dass ihre Worte die Stimmung zu seinen Gunsten verändert hatten und er mehr Aufmerksamkeit bekam. Er bedauerte, dass er keine öffentlichen Reden mehr gehalten hatte. Er hatte zugelassen, dass Unterstellungen die Stille füllten. Dabei war es seine Pflicht, die Wahrheit zu verbreiten, auch wenn ihm die etablierten Kanäle versperrt blieben. Es war seine Pflicht, sich seinen Feinden entgegenzustellen, egal wie groß ihre Übermacht war. Er hatte sich so niederkämpfen lassen, dass er geglaubt hatte, die Wahrheit besäße keinen Wert. Aber das tat sie: Sie war stärker als die Lügen, und das Publikum hörte es in seiner Stimme, wenn er sprach. Ermutigt versuchte er, aus dem Gespräch eine Rede zu machen und zu sagen, weshalb er hergekommen war.
    – Mit den falschen Anschuldigungen sind wir fertig – können wir jetzt über das reden, was wirklich wichtig ist? Was Millionen von Amerikanern im ganzen Land wichtig ist! Über die Ungerechtigkeit, die Vorurteile, die Intoleranz und die institutionalisierte Diskriminierung, die nicht nur schwarze Amerikaner betreffen, sondern alle armen Amerikaner!
    Er löste sich von seinem vorbereiteten Text und sprach aus dem Stegreif. So wie sein Russisch in erfüllenden Wogen aus Wörtern und Phrasen zurückgekehrt war, kehrten jetzt die Worte der Empörung zurück, die er in Hunderten von Reden und jahrelangem Protest perfektioniert hatte. Sein Publikum wuchs an, alle wandten sich ihm zu, Männer und Frauen jeden Alters und jeder Hautfarbe. Einige der Kriegsgegner kamen zu ihm und stellten ihre Trommeln ab, damit man ihn hören konnte. Vor so vielen Zuhörern hatte er seit beinahe zehn Jahren nicht mehr gesprochen, und die Menschen waren nicht wegen seiner Lieder hier, sie wollten sich nicht unterhalten lassen, sie waren hier, um die Welt zu verändern. Und die Menge wuchs weiter an, immer mehr Menschen trafen ein, drängten sich in den Bereich hinter den stählernen Absperrungen.
    Eine wütende Frau rief:
    – Gehen Sie doch mit denen zurück nach Russland, wenn Sie das Land so lieben!
    Mit frisch gewonnenem Selbstvertrauen freute sich Jesse über die neue Gegnerin.
    – Warum sollte ich irgendwohin gehen, wenn hier meine Heimat ist! Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht. Meine Eltern sind hier

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