Agent 6
auch angeregt, bei Komponisten aus der ganzen Welt neue Lieder in Auftrag zu geben. Die internationale diplomatische Elite applaudierte, weil es gelungen war, für dieses Konzert die vielen möglichen Fallstricke zu umgehen, niemanden zu beleidigen und jeden einzuschließen. Raisa hatte sich zwischen den verschiedenen Empfindlichkeiten so souverän wie eine Diplomatin bewegt, jetzt zollten ihr die echten Diplomaten im Publikum Anerkennung.
Soja folgte dem amerikanischen Jungen von der Bühne, während noch Applaus durch den Saal brandete. Als die Schüler den Gang erreichten, brachen die Reihen auf, und sie umarmten sich, begeistert von ihrem Erfolg. Raisa sprach mit der amerikanischen Schuldirektorin; anders als bei ihrem vorsichtigen Gespräch während der Kostümprobe lachten beide Frauen. Soja freute sich für ihre Mutter. Sie konnte stolz auf ihren Erfolg sein, und Soja bedauerte, dass sie die ganze Veranstaltung so zynisch gesehen hatte. Sie wünschte, sie hätte das Konzert mehr unterstützt, so wie Elena.
Als Soja sich unter den Schülern umsah, konnte sie ihre Schwester nicht entdecken. Elena hatte in der Reihe nur wenige Plätze entfernt gestanden, trotzdem war sie jetzt nirgends zu sehen. Soja machte sich auf die Suche nach ihr, sie schob sich durch die Menge, unter die sich Zuhörer aus dem großen Saal gemischt hatten. Immer mehr Menschen drängten auf den Gang, um ihnen zu gratulieren, und Männer, die sie nicht kannte, schüttelten ihr die Hand. Sie entdeckte Mikael Iwanow, den Propagandaoffizier. Er bahnte sich einen Weg durch die Schüler, ohne sie zu beachten, und das, obwohl sie gerade fotografiert wurden.
Soja folgte ihm.
*
Glücklich über den Erfolg suchte Raisa nach ihren Töchtern. Sie waren nicht leicht zu finden, weil die Gänge so überfüllt waren. Langsam drehte sie sich auf der Stelle und suchte die Menge ab. Die beiden waren nirgends zu sehen. Beklemmung stieg ihr kribbelnd die Beine hinauf bis in den Magen. Sie achtete nicht auf die Glückwünsche, die man ihr aussprechen wollte, und ignorierte genau die Menschen, die sie hatte beeindrucken sollen. Sie drängte sich durch die Menge und entdeckte schließlich erleichtert Soja. Rasch lief sie zu ihr.
– Wo ist Elena?
Soja war blass vor Sorge.
– Ich weiß es nicht.
Dann hob Soja die Hand und zeigte nach vorn.
Raisa sah Mikael Iwanow, der mit dem Rücken zu ihr und den Kindern durch die großen Fenster der Eingangshalle auf die Demonstration draußen blickte. Hinter ihm machten die Fotografen Aufnahmen von den Kindern, trotzdem wandte er sich nicht um, sondern konzentrierte sich auf das Geschehen vor dem Gebäude. Sie ging zu Mikael, ergriff seinen Arm und zog ihn herum. Sie starrte ihm mit einer solch grimmigen Entschlossenheit in das attraktive Gesicht, dass er zurückzuckte, aber sie ließ seinen Arm nicht los.
– Wo ist Elena?
Er setzte zu einer Lüge an. Das konnte sie genauso deutlich erkennen, als würde sie den Mechanismus einer Uhr betrachten.
– Lügen Sie mich nicht an, sonst fange ich vor allen Gästen an zu schreien, das schwöre ich.
Er schluckte die Lüge herunter. Und sagte nichts. Raisa sah hinaus auf die Demonstration und flüsterte:
– Wenn ihr irgendetwas passiert, bringe ich Sie um.
Manhattan
Vor dem Hauptsitz der Vereinten Nationen
First Avenue & East 44th Street
Am selben Tag
Elena verließ das UN -Gebäude, ohne aufgehalten zu werden. Es waren Vorbereitungen getroffen und ein Weg festgelegt worden, der an den Wachleuten vorbeiführte. Durch einen toten Winkel des Gebäudes gelangte sie zu einem Ausgang, durch den sie ohne Fragen entwischen konnte. Vor dem Haus reichte man ihr einen dunkelroten Mantel mit Kapuze, die ihr Gesicht verdeckte. Nichts blieb dem Zufall überlassen. Direkt nach dem Konzert war sie von der Hauptgruppe getrennt worden. Mikael begleitete sie nicht. Er durfte auf dem Foto nicht auftauchen, weil es durch die Anwesenheit eines Propagandaoffiziers an Glaubwürdigkeit verlieren würde. Die Pläne hatten sich während der Kostümprobe geändert. Mikael hatte erklärt, es wäre unmöglich, eine ganze Gruppe von Schülern zu der Demonstration zu bringen, sie könnten höchstens Elena hinausschmuggeln. Die amerikanischen Behörden hatten einen Bus organisiert, der die Schüler von Tür zu Tür bringen sollte, von den Vereinten Nationen direkt zurück zum Hotel. FBI -Agenten würden den Bus fahren. Elena musste allein gehen. Auf ihren Schultern lastete die ganze Operation:
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