Agent 6
eine Chance, den Kommunismus in den Augen der Welt neu zu definieren, ein modernes, fortschrittliches Bild zu schaffen, verkörpert durch das Foto einer jungen Russin Hand in Hand mit einem älteren Amerikaner, eine Brücke zwischen zwei Ländern und zwei Generationen. Das Foto würde eindrucksvoll eine aufgeschlossene Ideologie zeigen und die Welt daran erinnern, dass die Sowjetunion verschiedene Rassen und Kulturen über weite Räume hinweg verbinden konnte. Endlich würde Elena aus dem Schatten ihrer Schwester treten und Mikael beweisen, dass sie sein Vertrauen und seine Liebe verdiente.
Vom Herz der Demonstration aus gesehen lag der Ausgang des UN -Gebäudes ein Stück die Straße hinauf. Um Jesse Austin zu erreichen, musste Elena an dem Polizeikordon vorbei. Mit hochgeschlagener Kapuze lief sie zu den Demonstranten, voller Angst, die amerikanischen Polizisten könnten sie aufhalten. Sie hielt den Kopf gesenkt, und als sie mit rasendem Herzen einmal kurz aufblickte, sah sie Austin auf der Kiste stehen. Er bemerkte sie nicht, so vertieft war er in seine Rede. Der einfachste und kürzeste Weg zu ihm hätte über die stählerne Absperrung geführt, aber weil sie befürchtete, dabei würde man sie verhaften, ging sie außen herum durch die Menge. Inmitten der Menschen atmete sie tief durch und streifte die Kapuze zurück; hier fühlte sie sich sicherer als auf der ungeschützten Straße. Während sie sich langsam nach vorne drängelte und immer wieder von den Protestlern angestoßen wurde, fiel ihr auf, dass sie sich nicht durch einen chaotischen Pulk bewegte, sondern durch ein aufmerksames Publikum – alle blickten in die gleiche Richtung und hörten Mr. Austin zu, der seine Stimme über die Menge erschallen ließ. Er besaß kein Mikrophon und hielt keine vorbereiteten Notizen in der Hand. Im Vergleich zu dem ruhigen, höflichen Herrn, den Elena in seiner Wohnung kennengelernt hatte, wirkte er wie ein ganz anderer Mensch. Vor der Menge war er wütend und kraftvoll. Sein Auftritt nahm Elena gefangen; der Protest lag ihm im Blut, er war für ihn so natürlich wie die Luft zum Atmen.
Anders als das nichtssagende Konzert im Saal, wo nur sorgfältig ausgewählte, harmlose Lieder gesungen werden duften, denen jede Provokation und jeder echte Wunsch nach Veränderung fehlte, war dieser Auftritt laut und stürmisch und dadurch besser. Elena hatte noch nie an einer Demonstration teilgenommen. In Moskau hatte sie noch nie eine gesehen, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass ein solcher Protest stattfinden dürfte, während die Polizei untätig danebenstand. Die meisten New Yorker Polizisten waren auf der Straße, nicht auf dem Gehweg, sie hatten scheinbar vor der Menge kapituliert, hielten Abstand und wirkten seltsam unbeteiligt. Die große Polizeipräsenz schien Austin nicht zu stören. Elena beobachtete auf Zehenspitzen, wie er die Arme im Rhythmus jedes Satzes bewegte, wie er jede Phrase mit einer Geste unterstrich. Die Ärmel seines weißen Hemdes hatte er hochgekrempelt, als wäre es anstrengende körperliche Arbeit, eine Rede zu halten. Seine Botschaft ging über reine Worte hinaus – in ihr lag Magie. Verglichen mit Leos verdrossener Insichgekehrtheit und seinem Zynismus strahlte Jesse Austin eine Lebendigkeit aus, wie Elena sie noch nie erlebt hatte.
Als sie weiterging, war es, als würde sie gegen den Strom schwimmen, ihr zierlicher Körper wurde hin und her geschubst, die rempelnden Zuhörer wichen nicht zur Seite. Niemand wollte seinen Platz in Austins Nähe aufgeben. Elena blieb nicht mehr viel Zeit. Den Zuständigen würde bald auffallen, dass sie fehlte. Wenn man sie erwischte, würde man sie bestrafen. Aber das war egal, solange es ihr gelang, mit Austin zu posieren. Sie zog eine sowjetische Flagge aus der Manteltasche. Das war ihre Chance, etwas zu verändern: ihre Chance, Austin zu beweisen, wie sehr seine Anstrengungen geschätzt wurden und dass man ihn nie vergessen würde. Sie wollte ihn umarmen, während hinter ihnen die Flagge wehte, und so für das gewünschte Foto sorgen – sie beide Seite an Seite. Elena vergaß ihre guten Manieren, drängelte sich durch und riss andere Zuhörer zur Seite. Austin sah sie, als sie durch die erste Reihe brach. Er reichte ihr die Hand und zog sie auf die Kiste. Für einen Mann seines Alters besaß er erstaunlich viel Kraft. Dann erst sah Elena seine Frau. Mrs. Austin tat etwas, das sie zuvor nicht getan hatte: Sie lächelte.
Als die Menge Elena auf der
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