Agent 6
Zweifel, dass mit dieser Waffe auf Jesse Austin geschossen wurde.
Manhattan
Bellevue Hospital Center
462 First Avenue
Am selben Tag
Anna hielt sich an den Seiten des Waschbeckens fest. Sie war sicher, sie würde fallen, wenn sie losließ. Sie schnappte nach Luft, ohne einen natürlichen Rhythmus, jeder Atemzug war wie aus der Luft gerissen. Dabei wiederholte sie in Gedanken immer wieder dieselben fünf Wörter, ohne sie begreifen zu können:
Jesse ist tot.
Ich lebe.
Zaghaft löste sie die rechte Hand vom Waschbecken und drehte das kalte Wasser auf. Sie hielt die hohle Hand darunter, schöpfte etwas Wasser und hob sie ans Gesicht, während ihr das Wasser durch die Finger rann. Als sie ihr Gesicht erreichte, war ihre Handfläche leer bis auf wenige, kalte Tropfen, die sie sich gegen die Stirn drückte. Sie liefen ihr über das Gesicht und sammelten sich in ihren Augen wie Tränen, wenn sie hätte weinen können.
Sie versuchte, die Wörter laut auszusprechen, vielleicht würde es dadurch wirklicher.
– Jesse ist tot. Ich lebe.
Sie konnte sich ihr Leben ohne ihn nicht vorstellen, konnte sich nicht vorstellen, morgen früh ohne ihn aufzuwachen, zur Arbeit zu gehen und in ihre leere Wohnung zurückzukehren. Sie hatten gemeinsam Elend überlebt und gemeinsam Erfolg genossen. Sie hatten das ganze Land gemeinsam bereist und sich eine beengte Wohnung in Harlem geteilt. Was sie auch getan hatten, sie hatten es gemeinsam getan.
Diejenigen, die das Sagen hatten, hatten fünfzig Jahre gebraucht, aber schließlich hatten sie ihn erwischt. Sie hatten ihm kein Seil um den Hals gelegt, sie hatten ihn nicht am Waldrand umgebracht, und die Mörder konnten auch nicht ihre Gesichter zeigen und sich stolz auf die Schulter klopfen, trotzdem war das ein Lynchmord, zweifellos, mit Fotos und Publikum. Sie würde nicht weinen, noch nicht. Sie würde seinen Tod nicht als weinende Witwe an seinem Grab betrauern. Da hatte Jesse ihr etwas Besseres beigebracht. Und er verdiente etwas Besseres.
Als sie spürte, dass sie ihren Körper einigermaßen unter Kontrolle hatte, richtete sie sich auf und drehte das Wasser ab. Sie ging zur Tür des Waschraums und öffnete sie. Ein Stück den Gang hinunter sah sie die Polizisten, die sie verhören wollten. Sie wandte sich in die entgegengesetzte Richtung. Sie wusste, was sie zu tun hatte.
Manhattan
17. Polizeirevier
167 East 51st Street
Am selben Tag
Raisa hatte die Gefahr vorausgesehen, hatte mit Leo gesprochen, seine Bestätigung gehört, dass tatsächlich Gefahr bestand, und die Bedrohung dann einfach weggewünscht. Viele Jahre lang hatte sie niemandem vertraut, jedes Versprechen angezweifelt und unterstellt, dass jede Handlung auf Eigeninteresse und Täuschung beruhte. Das war aufreibend gewesen, aber es hatte funktioniert – sie hatte überlebt, während das Regime viele Tausende ermordet hatte. Doch für ihre Töchter hatte sie diese Geisteshaltung und diese Art zu leben nicht gewollt. Sie hatte ihnen nicht beigebracht zu lügen, wenn ein Fremder nach ihrem Namen fragte. Sie hatte ihnen nicht eingehämmert, dass sie grundsätzlich umsichtig und misstrauisch sein mussten. Sie hatte nicht gewollt, dass die Mädchen jedes Zeichen von Zuneigung hinterfragten und jede Freundschaft anzweifelten. Und dadurch hatte sie versagt, als Mutter und als Lehrerin. Dass Leo seine Vergangenheit hinter sich gelassen hatte, bedeutete noch lange nicht, dass die finsteren Mächte nicht mehr existierten. Er hatte sich verändert. Aber es war falsch gewesen zu glauben, die Welt hätte sich auch verändert.
Raisa, die von einer Polizistin bewacht wurde, wollte sich nicht hinsetzen, sie stand in einer Ecke ihrer Zelle, mit dem Rücken zur Wand, und hielt die Arme verschränkt. Sie hatte nichts über Elena gehört. Man hatte sie in getrennten Wagen weggebracht, nachdem sie im chaotischen Nachspiel des Mordes voneinander weggezerrt und verhaftet worden waren. In den wenigen Sekunden, in denen Raisa ihre Tochter im Arm halten konnte, war sie wieder ein kleines Mädchen, die kleine Elena, die sie vor zwölf Jahren adoptiert hatte – verloren und verwirrt und auf der Suche nach Schutz vor einer Welt, die sie nicht verstand. Sie vergrub das Gesicht an Raisas Schulter, die Hände feucht von Jesse Austins Blut, und weinte wie ein Kind. Raisa hätte ihr gern gesagt, alles würde gut werden, aber das würde es nicht, nicht dieses Mal, und sie brachte nicht einmal eine tröstende Lüge über die Lippen. Sie war so benommen
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