Agent 6
Kiste stehen sah, brach ein Schwall von Kommentaren los. Elena verstand nicht, was die Leute sagten, aber sie wusste genau, was sie zu tun hatte. Sie breitete die Flagge hinter sich aus. Austin ergriff sie. Angst flackerte in seinen Augen auf; er begriff, welche Provokation das war. Elena fragte sich, ob er die Flagge zusammenfalten würde. Aber er tat nichts dergleichen, die Flagge wehte hinter ihnen. Die Zuhörer drängten nach vorn, wie eine Welle brandeten sie gegen die Kiste. Blitzlichter von Kameras zuckten auf, Reporter stellten Fragen, dazu kamen wütender Widerspruch und erfreute Unterstützung. Austin fuhr mit der Hand durch die Luft, als wäre sein Arm eine Sense.
– Ich möchte Ihnen eine Freundin vorstellen. Sie ist eine junge Schülerin aus der Sowjetunion!
Er musste lauter sprechen, als die Zuhörer aufschrien, einige zustimmend, andere empört. Das Publikum war aufgebracht, es konnte nicht glauben, was sich vor seinen Augen abspielte. Elena musste lachen. Austin nahm ihre Hand, die immer noch die Flagge umklammerte, und reckte sie in die Höhe.
– Unsere Herkunft könnte nicht unterschiedlicher sein, und doch vereint uns der Wunsch nach Gleichberechtigung. Wir wurden auf verschiedenen Kontinenten geboren, aber wir glauben an die gleichen Dinge! Fairness! Gerechtigkeit!
Immer wieder blitzten Kameras. Ihr Erfolg stimmte Elena euphorisch. Dieser Moment war genauso, wie sie ihn sich erhofft hatte.
Der ohrenbetäubende Lärm brachte Jesse Austin und alle Anwesenden zum Schweigen, er klang wie ein Donnerschlag, so laut und unerwartet, als hätte er ganz Manhattan entzweigerissen. Die Kiste wackelte. Elena spürte das Zittern in den Beinen. Die benommene Stille hielt an, nachdem das Geräusch verklungen war, und inmitten der gerade noch lärmenden Demonstration wirkte dieser lautlose Augenblick so erschreckend und fremdartig, als schiene plötzlich Sonnenlicht aus dem nächtlichen Himmel. Die Stille dauerte nur eine Sekunde, dann löste sie ein unangenehmes Klingeln ab, das immer lauter und lauter wurde, bis ihre Ohren schmerzten. Sie roch Rauch. Sie roch Metall. Einige Demonstranten standen stumm und reglos da, wie erstarrt. Andere hatten den Mund weit aufgerissen. Elena ließ langsam die Arme sinken – die sowjetische Flagge hielt sie nicht mehr in der Hand, sie lag auf dem Boden, ausgebreitet wie eine Picknickdecke. Austin neben ihr hatte eine Hand auf die Brust gelegt, als würde die Nationalhymne gespielt. Er schien sich zu Elena zu beugen, immer näher, als wollte er ihr ein Geheimnis zuflüstern. Aber er sagte kein Wort, er fiel einfach weiter, stieß gegen sie und krachte um wie ein Baum, wie eine riesige alte Eiche, die gekappt wurde. Beide stürzten auf den Gehweg, in verschiedene Richtungen. Austin prallte gegen die Absperrung, während Elena in die Menge fiel. Ihr Kopf schlug gegen die Brust eines Demonstranten, sie griff nach seiner Kleidung, um ihren Sturz zu bremsen, dann schlug sie auf den Boden.
Sie lag zwischen den Füßen der Menge und bekam Tritte ab, als sich Panik ausbreitete und die Menschen lostrampelten. Mit den Armen über dem Kopf sah sie zwischen den stampfenden Füßen und Beinen hindurch, wie Mrs. Austin sich neben ihrem Mann auf die Knie warf. Die Menge brach aus, drängte auf die Straße und warf weitere Absperrungen um. Ein selbstgemachtes Spruchband fiel dicht neben ihr zu Boden. Sie stand auf, wurde aber sofort wieder auf die Knie gestoßen. Immer noch mit dem Klingeln in den Ohren versuchte sie es noch einmal und konnte sich schließlich hochkämpfen. Die Polizisten rückten von der anderen Seite her mit erhobenen Schlagstöcken näher, Demonstranten prallten gegen sie.
Elena humpelte weiter, neben Mr. Austin ließ sie sich fallen. Sein Hemd hatte sich rot gefärbt, der Fleck breitete sich schnell aus, bedeckte den ganzen weißen Stoff. Neben dem Klingeln in den Ohren hörte Elena, wie Mrs. Austin schrie:
– Helft uns!
Die Polizisten bildeten einen Kreis um den Tatort. Nur wenige Demonstranten waren noch übrig.
Jemand nahm Elenas Gesicht zwischen die Hände und blickte ihr in die Augen.
– Elena! Bist du verletzt?
Die Frau sprach Russisch.
*
Raisa untersuchte ihre Tochter, fand aber weder Blut an ihrer Bluse noch eine Verletzung. Sie zog Elena den roten Mantel aus, den sie noch nie gesehen hatte. In einer Tasche steckte etwas Schweres. Raisa griff hinein und umfasste einen kalten Metallgriff. Es war eine Pistole.
Sie wusste sofort und ohne jeden
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