Agent 6
von den Ereignissen, dass sie Elena nicht sagte, dass sie sie liebte. Das würde sie als Erstes sagen, wenn sie Elena wiedersah, und sei es nur für eine Sekunde. Raisa wusste nicht genau, in was für eine Verschwörung Elena sich hatte verwickeln lassen. Sicher hatten sie Elena nur mit dem Versprechen einer besseren Welt ködern können. Mit ihrem stillen Optimismus war sie wie Leo, ein Träumer, der mit Blut an den Händen geendet hatte. Raisa brach das Herz, wenn sie daran dachte, dass ihre junge, idealistische Tochter nie wieder dieselbe sein würde, egal was man ihr sagte und womit man sie tröstete. Leo würde ihr helfen. Er hatte das Gleiche durchgemacht – er würde wissen, was zu sagen war. Sie mussten es nur nach Hause schaffen.
Die Tür öffnete sich, und der Agent aus dem Hotel, Yates, betrat den Raum. Für einen Mann, unter dessen Leitung eine Katastrophe geschehen war, wirkte er erstaunlich zufrieden. Es gab nur eine Erklärung: Er war irgendwie darin verwickelt. Neben ihm stand ein ältere Frau – sie trug keine Uniform. Sie sprach zuerst, in perfektem Russisch:
– Sie müssen mitkommen.
– Wo ist meine Tochter?
Die Frau übersetzte für Yates. Er sagte:
– Sie wird gerade verhört.
Raisa folgte ihnen aus der Zelle und sagte auf Russisch:
– Meine Tochter hat niemanden getötet.
Die Frau übersetzte, und Yates hörte zu, antwortete aber nicht. Er führte sie in das Hauptbüro, einen weiten Raum mit Schreibtischen und Stühlen und vielen Menschen, vor allem Polizisten, klingelnden Telefonen, Leuten, die durcheinanderbrüllten und sich aneinander vorbeidrängten.
– Wohin bringen Sie mich?
Nachdem er die Übersetzung gehört hatte, sagte Yates:
– Sie werden verlegt.
– Wird meine Tochter auch verlegt?
Auf diese Frage erhielt sie keine Antwort. Yates sprach mit einem anderen Mann.
Während Raisa verwirrt und ängstlich wartete, sah sie sich im Raum um. Ihr war schwindlig. Sie wollte gerade um ein Glas Wasser bitten, als ihr in der Menge eine Frau auffiel – die einzige Schwarze im Büro. Sie trug Zivilkleidung. Neben ihr stand ein uniformierter Polizist. Der Officer sprach mit ihr, aber sie beachtete ihn gar nicht. Sie konzentrierte sich ganz auf Raisa und Yates und starrte durchdringend zu ihnen hinüber. Zu spät sah auch Yates die Frau, er reagierte sofort heftig und brüllte Befehle. Der uniformierte Polizist ergriff ihren Arm und versuchte, sie wegzuziehen. Sie riss sich los und hob den anderen Arm. In der Hand hielt sie eine Pistole.
Raisa hatte die Frau schon einmal gesehen, neben Jesse Austins Leiche, wie sie den Himmel um Hilfe anflehte, als niemand anders kam. Sie erkannte Liebe und Schmerz im Gesicht der Frau, Liebe, die zu Zorn wurde. Als die Pistole aufblitzte, eine helle Explosion aus weißem Licht, wünschte sie sich, sie hätte Elena als Letztes gesagt, dass sie ihr keine Schuld gebe und dass sie ihre Tochter sehr liebe.
Harlem
Bradhurst
Eighth Avenue & West 139th Street
Nelson’s Restaurant
Am nächsten Tag
Die Angestellten arbeiteten nicht, die Gäste aßen keinen Bissen, alle hatten sich dem Radio zugewandt. Die Kellnerinnen drängten sich vor dem Gerät zusammen, um die Nachrichten zu hören. Nelson stand davor, die Hand am Regler, die Lautstärke so weit wie möglich aufgedreht. Einige Frauen weinten und auch einige Männer. Die Stimme im Radio war dagegen knapp und nüchtern.
– Gestern Abend wurde Jesse Austin, früher ein bekannter Sänger, auf offener Straße erschossen. Als Verdächtige gilt eine russische Kommunistin. Sie soll Austins Geliebte gewesen sein. Wie eine Quelle aus der New Yorker Polizeibehörde berichtet, hat die Russin mehreren Polizisten den Mord gestanden. Als Grund soll sie angegeben haben, Mr. Austin hätte sein Versprechen gebrochen, sie zu heiraten und aus der Sowjetunion herauszuholen. Mr. Austin war bereits verheiratet. Tragisch ist auch der Fortgang der Geschichte. Gestern Abend nahm Austins Frau aus Rache für den Mord eine Schusswaffe an sich, betrat das Polizeirevier und erschoss die Russin. Nachdem sie die Verdächtige getötet hatte, richtete Mrs. Austin die Waffe gegen sich selbst …
Nelson nahm das Radio vom Tresen, zog den Stecker und hob es über den Kopf. Während die Gäste zusahen, überlegte er es sich anders und stellte das Radio wieder ab. Nach einem Moment sagte er zu allen im Raum:
– Wer sich diese Lügen anhören will, kann das woanders tun.
Dann ging er in sein Büro, kam wenig später mit
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