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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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seit Jahren kannte. Sie empfand es als ihre Pflicht, Leo in seiner Trauer nicht allein zu lassen, dabei tat es ihr selbst weh, sein Leid mit anzusehen. Soja machte ihm klar, dass das kein Leben war. Sie mussten als Familie weitermachen. Mit ihrer Entschlossenheit und Klugheit erinnerte sie ihn an Raisa. Er gab seine Nachforschungen zwar nicht auf, sah aber ein, dass er in nächster Zeit wohl kaum einen Durchbruch erzielen würde. Und so willigte er ein, seine Kräfte neu einzuteilen, New York als Ziel in den Hintergrund zu schieben und sich nur unauffällig damit zu befassen. Mit diesem Kompromiss lebten sie sieben Jahre lang zusammen. In dieser Zeit erlebte Leo viele glückliche Momente, aber sobald seine Gedanken zu Raisa zurückkehrten, und das taten sie immer, schmolz sein Glück dahin. Er lernte, seine Gefühle besser vor seinen Töchtern zu verbergen. Er lernte zu lügen, ihnen etwas vorzuspielen. Elena erholte sich, sie schloss die Schule ab. Soja wurde Ärztin. Beide verliebten sich. Elena heiratete zuerst, mit einundzwanzig Jahren stürzte sie sich in eine Romanze, Soja wartete etwas länger. Als beide Töchter ausgezogen waren, fand Leo, er habe sein Versprechen erfüllt. Er war allein, und seine Gedanken kehrten zu der Aufgabe zurück, von der er nie ganz gelassen hatte.
    Jahrelang hatte er über den Fall nachgedacht und stand immer noch vor einem Rätsel. Er begriff nicht, was hinter dem Plan steckte, Jesse Austin zu ermorden. Er beschloss, als Erstes müsste er den Propagandaoffizier Mikael Iwanow suchen, den Mann, der seine Tochter getäuscht hatte. Er wollte ihn nicht finden, um sich zu rächen, sondern weil Iwanow wichtige Informationen besaß. Sobald Leo ihn ausfindig gemacht hatte, würde er die Sache mit New York in Angriff nehmen.
    Iwanow lebte nicht mehr in Moskau, und es kostete viel Mühe und Bestechungsgelder, um herauszufinden, dass er nach Perm versetzt worden war, ins tiefe Russland. Als Leo ohne Reiseerlaubnis in Perm ankam, fand er heraus, dass Iwanow direkt nach der Rückkehr aus New York hierhergekommen war, in der Kommunalverwaltung gearbeitet und gern getrunken hatte. Einige Winter zuvor war er sturzbetrunken auf einen zugefrorenen See marschiert, eingebrochen und an Lungenentzündung gestorben. Manche glaubten, es wäre ein Unfall gewesen, andere gingen von Selbstmord aus. Leo hatte den Friedhof besucht. Die siebenjährige Verzögerung machte es viel schwerer, die Wahrheit aufzudecken. Beweise, Erinnerungen und Zeugen schwanden, genau wie die Druckerfarbe der Zeitungsartikel, die er gesammelt hatte.
    Er durfte keine Zeit mehr verlieren. Er arbeitete einen Plan aus, wie er nach New York gelangen konnte, sparte sein bescheidenes Einkommen, um auf dem Schwarzmarkt Gold zu kaufen, das er hinter der Grenze brauchen würde, und legte sich sorgfältig eine Reiseroute nach Amerika zurecht. Die Vorbereitungen machten ihm Hoffnung, er könnte den Mord aufklären – egal wie schwer es werden würde.
    *
    Am ersten Weihnachtsfeiertag 1973 hatte er mit seinen Töchtern und ihren Ehemännern zu Abend gegessen. Er hatte ihnen Geschenke gegeben und sie zum Abschied geküsst. Von seinen Plänen hatte er nichts erzählt. Am nächsten Tag hatte er sich auf die Reise zur finnischen Grenze gemacht. Er hatte sie beinahe erreicht, als man ihn angeschossen und gefangen genommen hatte. Sein misslungener Fluchtversuch hätte sein Todesurteil bedeuten können. Wieder hatte Frol Panin eingegriffen. Gebrechlich und krank hatte der alte Mann Leo gewarnt:
    Ich kann dich nicht noch einmal beschützen.
    Das Gleiche hatte Leo einmal seinem eigenen Protegé gesagt. Weil der Staat seinen Versuch, die Grenze zu überqueren, als Trauer und nicht als Verrat auslegte, stellte er Leo vor die Wahl – eine lebenslange Gefängnisstrafe oder eine Arbeit, die so gefährlich war, dass sich niemand freiwillig dafür melden würde.

Provinz Kabul
Kabul
Karta-i-Seh-Viertel
Sowjetische Botschaft
Boulevard Darulaman
Am nächsten Tag
    Hauptmann Anton Waschtschenko wurde um fünf Uhr morgens wach und stand beim ersten Weckton auf, ohne sich noch einen Moment im Bett zu gönnen. Er schwang die Füße unter der Bettdecke hervor und presste sie auf den kalten Fußboden. Disziplin verschaffte ihm Befriedigung. Im Dunkeln trank er aus einer Stahlflasche starken, kalten Kaffee, den er am Abend zuvor gekocht hatte. Ohne Zucker oder Pulvermilch schmeckte das Getränk bitter und abgestanden. Er trank einen großen Schluck, dann zog er im

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