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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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das Wasser bis über die Hüften stieg, war ihm wunderbar warm. Hätte er seinem Körper vertraut, hätte er schwören können, er stünde in einem tropischen Gewässer, das so angenehm war wie die Sonne auf seiner rissigen, gebräunten Haut. Statt die Arme zu heben, ließ er sie in den See sinken und zog sie beim Gehen hinter sich her. Bald stieg ihm das Wasser bis über die Schultern – er stand am Rand des flachen Teils, seine Füße hatten den Punkt erreicht, hinter dem der Grund steil abfiel. Noch ein Schritt, dann würde er unter der Oberfläche versinken, die schweren Steine in seinen Taschen würden ihn nach unten ziehen bis auf den Grund, wo er im Schlamm Ruhe finden würde. An dieser Grenze wartete er, während ihm das Wasser gegen die Lippen schwappte, ganz nah an der Nase, und die Oberfläche bei jedem langsamen Atemzug zitterte.
    Das Opium trieb dick durch sein Blut, es schirmte seine Sinne von der Wirklichkeit ab. Bis sich die Droge verdünnt hatte, würde sie ihn vor der Kälte und vor allem anderen bewahren – vor der Enttäuschung über das Leben, das er führte, und der Reue über das Leben, das er hinter sich gelassen hatte. Aber in diesem Moment plagten ihn keine Probleme, seine Verbindung zu der Welt bestand nur aus einem dünnen Faden. Das einzig spürbare Gefühl war Zufriedenheit, nicht in der Form von Glück, sondern Zufriedenheit als Abwesenheit von Schmerz, als Abwesenheit von Verbitterung – ein köstliches Fehlen jeder Empfindung. Das Opium hatte ihn ausgehöhlt, hatte Verbitterung und Vorwürfe vertrieben. Dass er Rache geschworen und Gerechtigkeit versprochen, aber nichts erreicht hatte, belastete ihn nicht. Durch die Droge verdrängte er sein Versagen, verbannte es in ein vorübergehendes Exil, aus dem es zurückkehren würde, wenn die Wirkung des Opiums nachließ.
    Das Wasser, das an seine Lippen schwappte, drängte ihn weiter:
    Einen Schritt noch.
    Warum sollte er sich mit einer Leere zufriedengeben, die ihm eine Droge nur vorgaukelte, wenn die wahre Leere so nah war? Ein weiterer Schritt würde ihn auf den Grund des Sees bringen, und nur eine Kette von Luftblasen, die von seinen Lippen zu der smaragdgrünen Oberfläche aufstieg, würde von seiner Existenz zeugen. Die schweren Steine in seinen Taschen stimmten in das Geflüster ein, das ihn zum letzten Schritt drängte.
    Leo hörte nicht auf sie, er stand reglos da. Wie viele Male er dort auch stand, wie sicher er sich auch war, dass er an diesem Tag die Grenze überschreiten würde, konnte er sich doch nicht dazu bringen, den dünnen Faden, der ihn mit der Welt verband, zu durchtrennen. Er konnte den letzten Schritt nicht gehen.
    Das Opium ließ langsam nach. Seine Sinne verbanden sich wieder mit der Wirklichkeit, wie Planeten, deren Laufbahnen sich einander anglichen. Das Wasser war kalt, er fror. Zitternd nahm er die glatten Steine aus den Taschen und ließ sie neben sich hinabsinken. Er spürte das Zittern, als sie den Grund des Sees trafen. Dann wandte er sich von den Bergen ab, kehrte langsam durch das aufgewühlte Wasser zum Ufer zurück und watete auf Kabul zu.

Kabul
Karta-i-Seh-Viertel
Boulevard Darulaman
Am selben Tag
    Als Leo seine Wohnung erreichte, war die Sonne untergegangen, und seine Kleidung war getrocknet, nachdem er auf dem Rückweg vom See mit dem Fahrrad eine Tropfenspur durch den Staub gezogen hatte. Während das Opium aus seinem Blut wich, wie Sand durch eine Stundenuhr rann, durchströmten ihn Gefühle des Versagens und der Melancholie, ein Virus, der ihn immer wieder befiel und den er nur vorübergehend ausschalten konnte. Er lebte ganz allein in der Stadt, getrennt von seinen Töchter, nur begleitet von den Erinnerungen an seine Frau und dem damit verbundenen Wissen, dass ihre Ermordung ungestraft blieb. Seine Rückenmuskeln verkrampften sich bei der Erinnerung an seinen beschämenden Versuch, irgendwie nach New York zu kommen, und die Narbe von der Kugel in seiner Schulter schmerzte, als wäre die Wunde frisch. Falten gruben sich in seine Stirn, als er sich wieder an die Einzelheiten von damals erinnerte. Warum wurde Jesse Austin erschossen, und worin bestand die Verbindung zu seiner Frau? Welche Wahrheit verbarg sich hinter alldem? Eine gefährliche Rastlosigkeit stieg in ihm auf – er konnte die Sache nicht auf sich beruhen lassen, dabei war er weiter von der Wahrheit entfernt als je zuvor. Opium war für ihn keine Lösung geworden, sondern nur eine Möglichkeit, diese Gedanken für vielleicht

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