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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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es über der Flamme schmolz und der Rauch die Pfeife hinauftrieb. Dann begann das Opium zu brennen, der kleine Klumpen veränderte seine Form. Leo inhalierte tief und füllte seine Lunge mit Rauch, der seine Unruhe langsam vertrieb und das Gefühl von Enttäuschung und Versagen zerfließen ließ.
    Wenn Leo seine Gefühle so betäubte, wie ein Chirurg einen Patienten vor der Operation ruhigstellte, konnte er zu den Erinnerungen an Raisa zurückkehren. Das Opium ermöglichte ihm, die Vergangenheit mit so viel Abstand zu betrachten, als würde sie zu einem anderen Mann aus einer anderen Welt gehören. In Moskau hatte ihn das Leben umgeben, das er zusammen mit ihr geschaffen hatte, von ihrer Wohnung bis hin zu der Stadt, den Parks, dem Fluss. Selbst das Rattern einer vorbeifahrenden Straßenbahn ließ ihn mit schmerzender Brust mitten im Satz innehalten. Die rauen Winter, die heißen Sommer – alles erinnerte ihn an sie. In den Monaten direkt nach ihrem Tod hatte der Wunsch, den Mord aufzuklären, so hell wie die Oberfläche der Sonne in ihm gebrannt und alle anderen Sorgen verzehrt. Das war sein einziger Gedanke gewesen, vom Aufwachen am Morgen bis zum Abend, wenn er auf sein Bett fiel, wo er nur wenige Stunden unruhigen Schlafes fand. Er hatte bei Funktionären Eingaben gemacht, Briefe geschrieben und darum gebettelt, nach New York gehen zu dürfen, aber immer wieder nur gehört, das sei unmöglich.
    Raisas Leiche war nach Moskau überführt worden. Leo hatte eine zweite Autopsie verlangt. Zu seiner Überraschung war man seiner Forderung nachgekommen, vielleicht in der Hoffnung, er könnte danach trauern und würde seine ständigen Anträge aufgeben. Die sowjetischen Ärzte bestätigten den Befund der Amerikaner, sie sei aus etwa zehn Metern Entfernung erschossen worden, mit einer einzigen Kugel aus einer Handfeuerwaffe. Die Kugel sei in den Oberkörper eingedrungen, direkt unterhalb der Rippen. Nachdem er den Bericht gelesen hatte, bestand er darauf, ihre Leiche zu sehen. Seine Frau lag mit einem dünnen, weißen Laken bedeckt auf einem Stahltisch. Er hatte das Laken genommen und bis zu ihrer Taille heruntergezogen – ein schreckliches Wiedersehen. Ihre schon immer blasse Haut hatte einen wässrig weißen Ton angenommen und war von dünnen, blauen Linien durchzogen. Er ignorierte die Anweisung, sie nicht zu berühren, und öffnete ihre Augen. Sie hatten immer so klug und verständig geschaut, gleichzeitig scharfsinnig und schelmisch, achtsam und verschmitzt, aber in diesen Augen, die zur Decke hinaufstarrten, lag nichts. Diese Veränderung erschreckte ihn so, dass er sich einen Moment lang fragte, ob das überhaupt dieselbe Frau sein konnte, als wären ihr Leben und ihre Intelligenz zu starke Kräfte, um sie ganz auszulöschen, als müsste ein letzter Rest noch übrig sein.
    Dann hatte er sich wieder gefangen und eine nüchterne Untersuchung als Polizist begonnen. Er zog ein kleines Notizbuch hervor und nahm einen Stift in die Hand. Als er auf die erste Seite des Notizbuchs blickte, sah er eine krakelige Linie, die seine zittrige Hand unwillkürlich über das Blatt gezogen hatte. Er beruhigte sich, riss die erste Seite aus dem Buch und schrieb einige Beobachtungen auf, die er mit dem Arzt neben sich abklärte. Raisa war verblutet. Als ehemaligem Soldaten war ihm beim Anblick der Wunde klar, dass sie nicht sofort gestorben war, sondern langsam und qualvoll. Er bat den Arzt, ihm zu sagen, wie viel Zeit zwischen dem Eindringen der Kugel und Raisas Tod schätzungsweise verstrichen war. Sie war mitten in Manhattan erschossen worden, nur Minuten von den besten Krankenhäusern der Welt entfernt. Der Arzt konnte ihm keine präzise Antwort darauf geben, er sagte, das sei von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich, so etwas könnte man nicht berechnen. Auf Leos Drängen hin schätzte er den Zeitrahmen auf etwa zwanzig bis dreißig Minuten – was mit Sicherheit hieß, dass die offizielle Version der Ereignisse erfunden war. Raisa hätte gerettet werden können. Dieses Wissen verstärkte Leos Verlangen noch – er musste nach New York, ob mit oder ohne Erlaubnis des Staates.
    So blind, wie er allem anderen gegenüber war, musste ihm erst Soja klarmachen, welche Konsequenzen seine besessenen Nachforschungen hatten. In den Monaten seit ihrer Rückkehr hatten Elenas schulische Leistungen stark gelitten, sie hatte abgenommen und sich zurückgezogen, war zu ängstlich, sich neue Freunde zu suchen, und misstraute denen, die sie

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