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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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in den Hinterzimmern brannten neue Feuer aus Zunder und Zweigen. Der Hauptmann blieb abrupt stehen, zog die Pistole und wirbelte herum. Die Mündung der Waffe endete auf gleicher Höhe mit der Stirn eines Kindes direkt hinter ihm, eines kleinen Jungen, der ihn beim Laufen imitiert hatte, um seine kleine Schar von Freunden zu beeindrucken. Als die Kinder die Pistole sahen, hörten sie auf zu lachen. Dem Jungen stand vor Angst der Mund weit offen. Der Hauptmann beugte sich vor und tippte mit dem Lauf der Makarow sanft gegen die Vorderzähne des Jungen, als würde er an eine Tür klopfen.
    Ein streunender Hund huschte auf die Straße, seine Augen leuchteten kurz in dem schummrigen Dämmerlicht auf, bevor er weglief. Hauptmann Waschtschenkos Tag hatte begonnen.

Provinz Kabul
Kabul
Karta-i-Seh-Viertel
Boulevard Darulaman
Am nächsten Tag
    Leo wachte auf und schälte sein Gesicht vom Kopfkissen. Nachdem er zitternd aufgestanden war, betrachtete er die Umrisse seines Körpers, die sich in die Matratze gedrückt hatten. Alle Muskeln schmerzten, das Innere seines Magens fühlte sich straff und ausgedörrt wie altes Leder an. Ein trockener Husten schüttelte ihn durch. Er trug immer noch die Kleidung, mit der er am Vortag in den See gegangen war. Beim Trocknen waren die Sachen steif geworden. Er zog die Falten aus dem Hemd, humpelte zur Eingangstür und streifte dunkelgrüne Flipflops über. Auf dem Weg die Treppe hinunter klatschten die Sohlen bei jedem Schritt. Er stieß die Haustür auf und blickte auf die Straße – aus der Dunkelheit seines Hauses in den hellen Sonnenschein und auf das Gewimmel der Stadt, von einer Welt in eine andere. Ein kharkar , ein Unratsammler, ratterte vorbei. Mit der Peitsche trieb er einen bemitleidenswerten Maulesel an, der einen übervollen Wagen mit Dreck und Schmutz auf quietschenden Rädern durch die Stadt zog. Als der kharkar vorbeigezogen war, atmete Leo tief den Geruch von Dieseldämpfen und Gewürzen ein. Er fragte sich, wie viele Stunden es wohl noch dauerte, bis es Nacht wurde. Die Sonne brach durch den Smog, und als er in den Himmel hinaufblinzelte, schätzte er, es müsste Nachmittag sein. Er hatte es sich zur Regel gemacht, erst zu rauchen, wenn es dunkel war.
    Ohne sich umzuziehen, zu waschen oder etwas zu essen ging er hinaus und machte die Tür zu, ließ sie aber unverschlossen, weil sich in der Wohnung nichts zu stehlen lohnte. Er schlurfte die Gasse hinunter bis zu seinem verrosteten Fahrrad, das wie ein treuer Straßenköter auf ihn wartete. Auch das Fahrrad war nicht abgeschlossen; es war wertlos und würde ebenfalls nicht gestohlen werden. Er schwang ein Bein über den Sattel, stieß sich von der Wand ab, fuhr schlingernd die Seitenstraße entlang und mischte sich auf der Hauptstraße unter die anderen Fahrräder und Eselskarren. Auf das Hupen der zerbeulten Autos antwortete das Stottern von Auspuffrohren. Leo versuchte, nicht hinzufallen, und hielt sich in diesem Chaos nur mit Mühe auf dem Sattel.
    Seit sieben Jahren schon arbeitete er als sowjetischer Berater für das kommunistische Regime in Afghanistan. Sein Fachgebiet umfasste die inneren Abläufe einer Geheimpolizei. Kein KGB -Agent hatte diese Aufgabe übernehmen wollen. In seinem Fall war der Einsatz so etwas wie ein Exil, eine Strafe für seinen missglückten Fluchtversuch. Es war kein ungefährlicher Job. Mehrere seiner Kollegen waren brutal ermordet worden, man hatte die Büros vor Ort gestürmt und die Männer öffentlich enthauptet. Er ging einer extrem verhassten Aufgabe nach in einer Gesellschaft, in der er nicht nur als Agent, sondern auch als Besatzer gehasst wurde. Sein Ziel lautete jetzt genau wie vor der sowjetischen Besatzung, eine afghanische politische Polizei aufzubauen, die der aufkeimenden Kommunistischen Partei Schutz bot. Man konnte den Kommunismus nicht nach Afghanistan exportieren, ohne gleichzeitig eine Geheimpolizei aufzubauen: Beides ging Hand in Hand, Partei und Polizei, Ideologie und Verhaftungen. Nachdem er dem Geheimdienst in seiner Heimat den Rücken gekehrt hatte, musste er hier wieder genau die Arbeit tun, die Raisa so verabscheut hatte. Wenn er seinen Posten verließ oder seinen Pflichten nicht nachkam, wenn er versuchte zu flüchten, würde man ihn standrechtlich erschießen. Jetzt galt militärisches Strafrecht. Weil seine Vorgesetzten sehr wohl wussten, dass ihm sein eigenes Lebens nicht viel wert war, hatten sie ihm klargemacht, dass seine Töchter ernste Konsequenzen zu

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