Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
Vom Netzwerk:
Dunkeln seine Laufsachen an – Jogginghose, Sweatshirt, Laufschuhe – und legte das enge Schulterholster für seine halbautomatische Makarow an. Seine Strecke war etwa fünf Kilometer lang und führte über den Boulevard Darulaman und den Fluss in die Stadtmitte. Man hatte ihm vorgeschlagen, er könnte am streng bewachten Flughafen laufen, wenn er trainieren wollte, und auf der Landebahn seine Runden drehen. Aber er hatte die Idee verworfen. Er würde dort laufen, wo er wohnte, wie er es immer getan hatte. In Stalingrad, wo er als Kind nach dem Großen Patriotischen Krieg aufgewachsen war, war er an zerstörten Häusern und Bombenblindgängern vorbeigelaufen und über Schutt geklettert – die Kulisse seiner Kindheit hatte aus Verwüstung bestanden. Hier in Kabul führte seine Laufstrecke an armseligen Behausungen und Regierungsgebäuden voller Einschusslöcher vorbei. Er wollte nicht abgeschottet im Schutz der Garnisonen vor der Stadt wohnen. Obwohl es Umstände machte und von einigen als unangemessen kritisiert wurde, bestand er auf einer bescheidenen provisorischen Unterkunft in der Botschaft. Der Hauptmann sah seine Aufgabe darin, in Kabul für Sicherheit zu sorgen, darum hätte er es unsinnig gefunden, außerhalb der Stadt zu wohnen. Wenn sie die Kontrolle über diese Straßen verloren, würde das ihren Feinden gleich zu Anfang einen psychologischen Sieg bescheren. Sie mussten sich verhalten, als würde die Stadt ihnen gehören. Und tatsächlich gehörte Kabul ihnen, ob es den Afghanen gefiel oder nicht.
    Hauptmann Waschtschenko passierte die Tore der Botschaft und joggte in Richtung Stadtmitte. Wenn er in Russland lief, steckte ihm auf dem ersten Kilometer noch der Schlaf in den Gliedern, aber dieses Gefühl schüttelte er ab, sobald er seinen Laufrhythmus fand und das Koffein seine Wirkung zeigte. In Kabul war er vom ersten Schritt an hellwach, und sein Herz schlug schnell, nicht vor Anstrengung oder wegen seines hohen Tempos, sondern weil die Chance bestand, dass ihn jemand töten wollte.
    Nach ein paar hundert Metern hörte er Schüsse. Er unterdrückte den Instinkt, stehen zu bleiben und in Deckung zu gehen, weil die Geräusche weit weg erklungen waren, in einem anderen Viertel. Gelegentliche Maschinengewehrsalven gehörten in dieser Stadt zum Alltag, ebenso wie die penetranten Gerüche – gekochtes Essen und ungeklärte Abwässer trennten nur wenige Meter. Selbst, als seine Hand Richtung Pistole zuckte, wünschte er sich nicht, irgendwo anders zu sein. Wie ein zäher Wüstenbewohner blühte der Hauptmann erst unter extremen Bedingungen auf. Das Leben in Russland mit Frau und Kindern interessierte ihn kaum. Wenn er zu Hause war, wurde er nach wenigen Tagen unleidlich. Er war kein guter Vater, das akzeptierte er, so wie andere Menschen akzeptierten, dass sie bestimmte Fähigkeiten nie besitzen würden. Er musste jeden Tag auf die Probe gestellt werden, nur dann fühlte er sich lebendig. Für einen sowjetischen Soldaten gab es keinen gefährlicheren Einsatz als den in Afghanistan, und schon deshalb hätte der Hauptmann nirgendwo anders sein wollen.
    Er war vor drei Monaten als Mitglied der Eliteeinheit Speznas eingetroffen, die Vorhut einer Invasion, die Afghanistans kommunistische Revolution nach einem Jahr erfolgloser Herrschaft vor dem Zerfall retten sollte. Zwar befanden sich bereits sowjetische Ratgeber in der Stadt, aber die Diplomaten waren lediglich Gäste eines unabhängigen afghanischen Staates. Der Hauptmann gehörte zu den ersten Soldaten, die nach zwei Jahrzehnten wieder als Besatzungstruppen in ein fremdes Land einmarschierten. Es war eine komplexe logistische Operation, die ein weites Gebiet umfasste. Raschen Erfolg versprach man sich davon, dass die kommunistische Regierung Afghanistans anfangs gar nicht mitbekommen würde, dass ihre Alliierten offiziell das Land besetzten; eine kühne Taktik, die dem Hauptmann gefiel. Am Heiligabend 1979 war er auf dem Kabuler Flughafen gelandet, während gleichzeitig weitere Speznas-Truppen den Luftwaffenstützpunkt Bagram im Norden anflogen, angeblich als Verstärkung der ohnehin großen militärischen Unterstützung für die Regierung. Die erste kritische Situation entstand bereits auf dem Kabuler Flughafen, als der Hauptmann und seine Leute aus den Flugzeugen stiegen, nachdem sie mit ihrer unerlaubten Landung gegen internationales Recht verstoßen hatten. Sie näherten sich den afghanischen Regierungstruppen, die dort stationiert waren und keine

Weitere Kostenlose Bücher