Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
Vom Netzwerk:
zwölf Stunden zurückzudrängen.
    Ohne sich umzuziehen, ließ er sich auf sein Bett fallen, das aus einer dünnen Matratze mitten im Zimmer bestand. Seine Wohnung war ungemütlich und rein funktional. Er hatte nicht in die Regierungsunterkünfte ziehen wollen, in denen Staatsdiener in Sicherheit hinter bewachten Toren und Stacheldraht wohnten, wo jede Neubauwohnung eine Klimaanlage besaß und jedem Wohnblock für die häufigen Stromausfälle ein Dieselgenerator zur Verfügung stand. Er aß nie mit den Offizieren in der Kantine, in der importiertes, vakuumverpacktes Essen aus Russland serviert wurde, und besuchte auch nicht die Bars für sowjetische Soldaten mit Heimweh. Er existierte wie ein entfernter Mond, der die Besatzung umkreiste, aber selten zu sehen war. Gelegentlich kam er nah genug, um alle an seine Existenz zu erinnern, bevor er in die Tiefen des Raums auf seine einsame, elliptische Umlaufbahn zurückkehrte.
    Entgegen den Vorschriften hatte er diese Wohnung selbst gesucht und die Miete direkt mit dem Vermieter ausgehandelt, ohne den offiziellen Dienstweg einzuhalten. Er folgte nur einem Kriterium – es sollte unmöglich sein, diese Wohnung mit dem Heim zu verwechseln, das er einst mit seiner Frau und seinen Töchtern geteilt hatte, es durfte keine Ähnlichkeiten geben. Deshalb gefiel ihm auch, dass in der Nähe vor einer Teestube Lautsprecher aufgebaut waren, die den Gebetsruf des Muezzins übertrugen, einen Klang, der seine Wohnung erfüllte, einen Klang, den er nicht von früher kannte. Er wollte sein Leben mit Dingen erfüllen, die ihn nicht an Raisa erinnerten, seine ganze Existenz so fremd gestalten, dass ihn nichts in das Leben zurückversetzte, das er verloren hatte. Die großen Fenster erlaubten den Blick auf die Stadt und die umliegenden Berge, ein vollkommen anderer Anblick als der Moskaus. Selbst der Grundriss der Wohnung war ungewöhnlich: Ein einziger großer Raum diente als Schlafzimmer, Wohnbereich und Küche. Es durfte keine getrennten Zimmer geben. Geschlossene Türen ließen seine Fantasie mit ihm durchgehen. Seine erste Wohnung in Bala Hissar, dem alten Kern von Kabul, war für eine traditionelle islamische Familie entworfen, mit einem hinten gelegenen Raum für Frau und Töchter. Als Leo dort wohnte, hatte er oft gedämpft Raisas Stimme gehört. Dann war er zu der Tür gelaufen und hatte sie aufgerissen, nur, um vor einem leeren Zimmer zu stehen. In einer anderen Nacht hatte er erst Elenas und dann Sojas Stimme gehört und war losgestürzt. So abwegig die Idee auch war, seine Familie könnte wieder zusammen sein und bei ihm leben, brachten ihn ihre eingebildeten Stimmen doch immer wieder dazu, in leere Zimmer zu sehen, manchmal drei oder vier Mal in einer Nacht. Er wäre beinahe wahnsinnig geworden. Als vorübergehende Lösung hatte er die Türen ausgehängt und Spiegel so in den Fluren platziert, dass er den leeren Raum jederzeit sehen konnte. Dann hatte er nach einer passenderen Wohnung gesucht.
    Leo holte seine Pfeife hervor, ein dünnes Holzröhrchen mit einem kleinen Metallkopf etwa zwei Drittel der Länge vom Mundstück entfernt. Den Rand des Pfeifenkopfs umgaben plumpe Gravuren, das Innere war vom verbrannten Opium geschwärzt. Obwohl nie offen darüber geredet wurde, war seine Sucht kein Geheimnis für seine Vorgesetzten. Soldaten und Funktionären waren stillschweigend alle Vergnügungen erlaubt, die sie sich beschaffen konnten, als eine Ergänzung zum erhöhten Sold, der nie reichen würde, um die Gefahren in Afghanistan auszugleichen. Für Leo hatte das Opium nichts mit Vergnügen zu tun. Ihm ging es darum, seinen Körper in etwas Fremdes zu verwandeln, das kaum mehr mit dem Körper zu tun hatte, der fünfzehn Jahre lang beinahe jede Nacht neben Raisa geschlafen hatte – sicher war es eine Sucht, aber auch eine Strategie, um mit seiner Trauer umzugehen.
    Er lief zu seinem geheimen Vorrat und brach ein erbsengroßes Stück so ungeschickt ab, dass es auf den dreckigen Boden fiel. Kniend hob er es auf und betrachtete das staubige Klümpchen. Er pustete, aber der Staub haftete auf dem klebrigen Opium. Es war egal. Er legte es in den stählernen Pfeifenkopf, zündete eine Kerze an und wartete ungeduldig, bis der Docht brannte. Opium brannte nicht so leicht wie Tabak und brauchte durchgehend eine Hitzequelle, damit man es rauchen konnte. Bäuchlings auf dem Bett liegend hielt er den Stahlkopf über die Kerze, den Blick auf das Opium gerichtet, und wartete gierig darauf, dass

Weitere Kostenlose Bücher