Agent 6
Vorwarnung über die Landung erhalten hatten. Mehrere Afghanen hatten die Waffen gehoben und mit ihren sowjetischen Maschinengewehren auf ihre sowjetischen Verbündeten angelegt. In diesem Moment hatte die Invasion auf Messers Schneide gestanden. Der Hauptmann hatte als Erster reagiert, er hatte seine Waffe fallen lassen und war mit erhobenen Armen auf die Soldaten zugelaufen, als würde er geliebte Genossen begrüßen. Dabei rechnete er jeden Augenblick mit Kugeln in der Brust. Aber es fiel kein einziger Schuss, und die Invasion lief unter dem Deckmantel eines militärischen Hilfsprogramms weiter. Der 7. und 8. Afghanischen Division versprach man neue Munition und machte ihre Waffen unschädlich, indem man die Artillerie aufgereiht im Sand auf Ersatzteile warten ließ, die nie kamen. Afghanische Panzereinheiten erhielten mit dem Versprechen auf Nachrüstungen den Befehl, den Treibstoff abzulassen. Nachdem der Treibstoff in Kanistern abtransportiert wurde, standen die schweren Geschütze nutzlos herum, während sowjetische Panzer die Grenze überquerten.
Der Hauptmann hatte das Täuschungsmanöver mit gemischten Gefühlen beobachtet. Es gab nur eine Erklärung – die afghanische Armee war unerfahren, die Disziplin einer modernen Streitmacht war ihr fremd. Die Soldaten ließen sich leicht täuschen, weil man ihnen eingetrichtert hatte zu tun, was man ihnen sagte. Sie erkannten nicht, wenn etwas mit einem Befehl nicht stimmte. Auf genau diese Soldaten mussten er und seine Kameraden sich verlassen, um Aufstände niederzuschlagen; auf Männer, die sich in einem konfusen Durcheinander ergeben hatten, als motorisierte Schützendivisionen von Turkmenistan und Usbekistan aus in Afghanistan eingefallen waren, und die keinen einzigen Schuss abgefeuert hatten, während fünfzigtausend fremde Soldaten die Kontrolle über ihr Land ergriffen. Die Stärke der afghanischen Truppen machte ihm keine Sorgen, eher ihre Schwäche. Die Invasion hatte darauf abgezielt, das afghanische Militär zu übernehmen, das über Jahre hinweg mit großzügigen Hilfsgeldern aufgebaut worden war. Die sowjetischen Soldaten, die in Afghanistan eintrafen, sollten den Krieg nicht selbst führen, sondern die afghanische Armee dazu anleiten. Aber noch bevor sich der Wüstensand wieder legte, den der Einmarsch aufgewirbelt hatte, wurde offensichtlich, dass es keine Armee gab, die man übernehmen konnte. Als sich die sowjetischen Truppen ringförmig im Land ausbreiteten und die größten Städte – Herat, Farah, Kandahar und Dschalalabad – in einer nahezu perfekten Kette erfolgreicher Panzer- und Truppenmanöver einnahmen, gerieten die afghanischen Streitkräfte nicht unter sowjetische Kontrolle, sie zerfielen einfach. Am Neujahrstag 1980 rebellierte die 15. afghanische Division in Kandahar. Als die 201. sowjetische Division in Dschalalabad einmarschierte, desertierte die 11. Division der afghanischen Armee einfach, in weniger als ein paar Stunden war eine ganze Division verloren. Dem Hauptmann war klar, dass der wahre Krieg gerade erst anfing.
Er gehörte nicht zu den verbohrten Offizieren, die den Widerstand gegen die kommunistische Regierung belächelten und ihn für primitiv, zersplittert und unorganisiert hielten – sie hatten es mit Stämmen zu tun, die untereinander verfeindet waren und die mit zusammengewürfelten, zum Teil fünfzig Jahre alten Gewehren gegen die sowjetische Armee antraten. Diese Einschätzung war zwar grundsätzlich richtig, übersah aber einen entscheidenden Vorteil ihrer Feinde. Dieses Land war ihre Heimat. Überlegene Waffen garantierten in dieser schwer zugänglichen Gegend noch keinen Sieg. Angetan vom geheimnisvollen Nimbus dieses Landes hatte der Hauptmann viele Stunden damit verbracht, über die Geschichte des afghanischen Widerstands, die Niederlage der Briten und ihren jämmerlichen Rückzug aus Kabul zu lesen. Vor allem eine Tatsache hatte sich bei ihm festgesetzt, was die Zeit nach der Vertreibung der Briten anging:
Die Afghanen haben noch nie einen Krieg verloren.
Gab es bessere Gegner, um eine brillante Karriere zu schmieden? Er ging mit größtem Respekt vor seinen Feinden in diesen Krieg, aber auch mit der größten Zuversicht, er würde der erste Soldat sein, dem sich diese tapferen Krieger geschlagenen geben würden. Oder sie konnten im Kampf sterben, wenn ihnen das lieber war.
Als er seinen Lauf beendete, erschienen am Himmel die ersten Anzeichen des Sonnenaufgangs. Einige Geschäfte hatten geöffnet,
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