Agent 6
befürchten hätten, sollte er sich nicht an die Regeln halten. Man würden den beiden etwas anhängen, ihr Leben ruinieren, und erst diese Drohungen banden ihn an seine Arbeit. Da er dem Staat zu Diensten sein musste, blieb ihm nichts anderes übrig, als die ihm zugewiesene Aufgabe pflichtgemäß zu erfüllen. Niemand, das war ihm klar, glaubte, dass er diesen Einsatz überleben würde. Trotzdem hatte er weitergemacht, hatte an seinem abgerissenen Leben festgehalten und diente jetzt länger als alle anderen sowjetischen Berater in Afghanistan.
Die Kommunistische Partei Afghanistans war ein recht neues Geschöpf, sie war erst wenige Jahre alt, als er 1973 in einer klapprigen Propellermaschine auf dem Flughafen Kabul landete. Unter dem großartigen Namen Demokratische Volkspartei Afghanistans wurde sie von einem Mann namens Nur Mohammed Taraki geführt, einem Agenten der Sowjetunion mit Codenamen NUR . Weil die Partei damals nicht an der Macht war, konnte Leo nichts derart Ausgefeiltes wie einen offiziellen Polizeiapparat aufbauen, und so bestand seine Aufgabe anfangs nur darin, die Partei vor der Zerstörung durch innere und äußere Feinde zu schützen. Es war wie eine Zeitreise in Lenins frühe Jahre: Der Kommunismus existierte als eine Minderheitspartei, der von allen Seiten tödliche Gefahren drohten. Es hatte harte Kämpfe gekostet, zahlreiche Intrigen der CIA abzuwehren und interne Rivalitäten zu klären. Nur wenige waren überraschter als Leo, als sich die Kommunistische Partei im April 1978 an die Macht putschte. Agent NUR wurde Ministerpräsident und Vorsitzender des Revolutionsrates. Damit änderten sich auch Leos Pflichten. Er konnte jetzt darüber beraten, wie man am besten eine Geheimpolizei mit Uniformen und Gefängnissen aufbaute, deren einziges Ziel es war, die Kommunisten an der Macht zu halten.
Um es nicht zu der Grausamkeit und Brutalität kommen zu lassen, die seine ersten Jahre als Offizier der Geheimpolizei geprägt hatten, empfahl Leo eine maßvolle und zurückhaltende Truppe. Seine Vorschläge wurden als naiv verworfen. Das neue kommunistische Regime formte seinen Polizeiapparat nach stalinistischem Vorbild. Es trug Blutfehden aus und nahm wahllos Verhaftungen vor. Nachdem sich der Präsident jahrelang vorsichtig verhalten und nach Macht gestrebt hatte, berauschte er sich jetzt am Schrecken. Täglich traf er Entscheidungen darüber, ob Bürger leben oder sterben sollten, ihm wurden Listen mit Namen vorgelegt, die er abhakte oder durchstrich. Ironischerweise geriet Leo durch den Erfolg der Partei ins Abseits. Er wurde nicht mehr gebraucht. In Berichten an den Kreml beschrieb er die Entwicklung des Ungeheuers, bei dessen Entstehung er geholfen hatte.
Ohne Gesetze, die ihn daran gehindert hätten, entweihte der Präsident Moscheen und ließ religiöse Anführer verhaften. Dieser religionsfeindliche Feldzug war so irregeleitet und wurde trotzdem so unnachgiebig vorangetrieben, dass Leo vermutete, allein die Vorstellung, dass es einen Gott geben könnte, würde einem Diktator mit gottgleicher Macht ein Dorn im Auge sein. Die Versuche des Präsidenten, aus Afghanistan über Nacht ein kommunistisches Land zu formen, waren ebenso fehlgeleitet. Mit dem Erlass Nr. 8 beschränkte er die Fläche des Grundbesitzes auf sechs Hektar, das restliche Land wurde vom Staat konfisziert. Daraufhin ging ein Aufschrei durch die Bevölkerung. Die Menschen fühlten sich dem Land, das sie besaßen, tief verbunden. Sie lebten mit ihren Familien dort, wo sie geboren waren, ihre Identität und ihr Stammesgebiet waren nicht voneinander zu trennen. Diese Gefühle wogen viel schwerer als alle Klagen der landlosen Arbeiter, die als Pachtbauern lebten. Ein Aufruhr braute sich zusammen, während sich der Präsident mit Dingen befasste, auf die er mehr Einfluss nehmen konnte – vornehmlich der Flagge des Landes. Er ersetzte darauf das Minbar, die Kanzel in der Moschee, durch ein neues Symbol mit einem fünfzackigen Stern. An dem Tag, an dem die neue Flagge zum ersten Mal gehisst wurde, befahl der Präsident, die Farbe Rot sollte gefeiert werden. Tauben wurden mit roter Tinte beschmiert, die Einwohner von Kabul sollten ihre Wohnungen von außen mit roter Farbe streichen und Schüler ihre Tische und Stühle rot lackieren. Leo wurde in einem Brief gefragt, ob er sich nicht überlegen wollte, sein Fahrrad rot zu lackieren. Er hob diesen Brief auf, kennzeichnete ihn als Beweisstück und fügte ihn dem Bericht bei, den er an
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