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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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diesem Abend für den Kreml verfasste. Darin beschrieb er das katastrophale Versagen ihres Satellitenregimes und sagte voraus, die Regierung würde kurz vor dem Zusammenbruch stehen.
    Der Sowjetunion blieb nur noch die Möglichkeit, direkt einzugreifen. Sie war Weihnachten 1979, drei Monate zuvor, einmarschiert. Durch den neuen Zustrom an Soldaten lebte Leo nicht mehr als einziger Russe in der Stadt. Sowjetische Panzer kontrollierten die Straßen von Kabul. Der frühere Präsident wurde ermordet und durch einen neuen ersetzt, durch Babrak Karmal, der sich dem sowjetischen Befehl unterwarf. Im Radio wurden die Ausschweifungen des früheren Anführers öffentlich angeprangert, dazu versprach man, Recht und Ordnung walten zu lassen. Das neue Regime wurde als gerecht und offen dargestellt, es gab sich nicht mehr aggressiv, brutal und strafend. Aber alle Sympathien, die es durch die Absetzung eines ungeliebten Anführers gewonnen hatte, wurden durch den Hass auf die Anwesenheit fremder Truppen aufgewogen. Sie war legitimiert durch den Präsidenten, der diese Truppen als Hilfe angefordert hatte, als wären sie nicht längst im Land gewesen, auf der rechtlichen Grundlage des Vertrags über Freundschaft und gute Nachbarschaft. Das Ganze war eine politische Scharade, die selbst beiläufige Beobachter als zynisch durchschauten. Im Februar wuchsen sich antisowjetische Demonstrationen in Kabul zu einem Aufstand aus. Dreihundert Menschen starben. Aber sogar so viele Tote genügten nicht, um die Gewalt zu unterdrücken. Die Geschäfte in Kabul wurden für eine Woche geschlossen. Flugzeuge und Hubschrauber flogen über die Stadt, als Machtdemonstration und unterschwellige Drohung, aufrührerische Viertel zu zerstören, sie dem Boden gleichzumachen, wenn sie sich nicht unterwarfen.
    Eine starke, schlagkräftige Geheimpolizei wurde immer dringender benötigt. Die Einheit wurde umbenannt in Kh AD , ein Staatlicher Nachrichtendienst als afghanisches Pendant zum KGB . Es wurden falsche Versprechungen gemacht. Die Zeit der sinnlosen Brutalität wäre zu Ende. Das Blut würde nicht mehr in Strömen fließen, niemand würde mehr Tauben rot anmalen. Präsident Karmal bestimmte den 13. Januar 1980 zum nationalen Trauertag für die Todesopfer des ehemaligen Präsidenten, und am nächsten Tag begann Leo seinen Unterricht, in dem er frisch rekrutierte afghanische Agenten ausbildete.
    Wegen seines struppigen, grauen Barts und der in den heißen, afghanischen Sommern alt und rissig gewordenen Haut, witzelten die sowjetischen Kollegen, Sonderberater Leo Demidow wäre unter die Eingeborenen gegangen. Sie räumten ein, dass er keinen salwar kameez trug, die traditionelle Kleidung des Landes, aber er trug auch keine Uniform – er war keiner von ihnen. In seiner Kleidung mischten sich verschiedene Stile: afghanische Strickhemden, sowjetische Armeehosen, Ray-Ban-Sonnenbrillen aus Amerika und Plastikflipflops aus chinesischer Massenproduktion. Er gehörte zu den wenigen sowjetischen Beratern, die fließend Dari sprachen, einen Dialekt des Persischen und die Sprache der herrschenden Klasse in Afghanistan; sie wurde seltener als Paschto gesprochen, dafür aber von den Machthabern. Dari war die erste Fremdsprache, die Leo gelernt hatte, und mittlerweile sprach er sie öfter als Russisch. In seinen Mußestunden las er Bücher über die Kultur und Geschichte Afghanistans und entdeckte, dass das Lernen ein ebenso wirkungsvolles Mittel war, der Wirklichkeit zu entfliehen, wie das Opium. Abgesehen von kommunistischen Doktrinen hatte Leo dreißig Jahren lang kein Buch gelesen, jetzt tat er kaum etwas anderes.
    Seine Vorgesetzten tolerierten Leos eigenwilliges Verhalten und seine Verschrobenheit mit einer Nachsicht, die in der Sowjetunion undenkbar gewesen wäre. Regeln und Vorschriften, die zu Hause galten, wurden hier stillschweigend ignoriert. Der Begriff der Disziplin war neu definiert. Kabul war eine Frontstadt, der Militärputsch drohte das Land in die Anarchie zu stürzen. Viele Berater bettelten, nach Hause fahren zu dürfen, gaben ihre Stelle auf, führten gesundheitliche Probleme an oder züchteten sich absichtlich eine Durchfallerkrankung an, um ihre Behauptung zu stützen, dieser Ort sei einfach nichts für sie. Sie argumentierten damit, dass sie sich niemals anpassen könnten, wie Leo es tat. Aber obwohl Leo der dienstälteste sowjetische Berater in Kabul war, betrachtete er sich kein Stück mehr als Afghanen als am Tag seiner Ankunft. Dass er sich

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