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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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dem Land angepasst hätte, behaupteten nur verängstige sowjetische Soldaten, die gerade aus dem Transportflugzeug gestiegen waren und von denen die meisten noch nie ihr Land verlassen hatten. In den Augen der Afghanen, die Leo traf, gehörte er nicht zu ihnen. Er kannte viele, befreundet war er mit keinem. Er war ein Fremder, so etwas wurde nicht in Abstufungen gemessen. Aber sie erkannten, dass er sich von den anderen Sowjets unterschied. Er schien an nichts zu glauben, weder an sein Land noch an eine höhere Macht, und sang auch kein Loblied auf seine Heimat. Obwohl er ruhelos und unstet wirkte, schien er den Ort, an dem er geboren wurde, nicht zu vermissen. Er erzählte nie von einer Frau. Er redete nicht über seine Töchter und zeigte auch niemandem ihre Fotos. Auch über sich selbst erzählte er nichts. Er gehörte weder zu diesem Land noch zu dem, das er zurückgelassen hatte. In vielen Dingen waren die typischen sowjetischen Soldaten in ihren Uniformen einfacher zu verstehen, mit ihrer Ideologie, mit Zielen, Aufträgen, Strategien und Zeitplänen. Sie standen für etwas, auch wenn es etwas war, das man verabscheute und besiegen wollte. Leo hingegen stand für nichts. Nihilismus wirkte noch fremdartiger als der Kommunismus.
    *
    Leo bremste das Fahrrad und hielt an. Vor ihm war ein Lastwagen mit einem Rad in einem Schlagloch stecken geblieben und hatte einen Teil seiner Ladung verloren, einige Tausend Plastikflaschen mit Trinkwasser. Die Beteiligten schrien sich gegenseitig an. Der Verkehr kam nicht vorbei und staute sich dahinter. Ungeduldige Autofahrer drückten auf ihre Hupen. Leo blickte zu den umliegenden Dächern hinauf und musterte die Zuschauer – er hatte schon so viele Unfälle in Kabul gesehen, dass er erkannte, ob etwas vorgetäuscht und eine Falle für einen möglichen Hinterhalt war. Auf der Straße waren keine sowjetischen Fahrzeuge zu sehen, und als er für das Hindernis keinen anderen Grund als den bedenklichen Zustand der Straße entdeckte, schlängelte er sich zwischen den verstreuten Flaschen hindurch, ignorierte die wütenden Unfallbeteiligten und passierte den Lastwagen. Er warf einen Blick zurück und sah Kinder, die Flaschen in ihre zerlumpten Hemden legten und mit ihrer Beute davonliefen. Er war an dem Unfall vorbeigefahren, als würde er gar nicht existieren.
    Während er schneller wurde, kam ihm ein Gedicht von Sabbah in den Sinn, geschrieben vor vielen hundert Jahren:
    Allein in einer Wüste
Habe ich mich verirrt:
Der Weg ist lang, und ich,
Ohne Hilfe und Gefährten,
Weiß nicht, wohin ich mich wenden soll.
    Anders als dem Sprecher in dem Gedicht war Leo sein Ziel immer klar gewesen. Seine Qual bestand darin, dass er es nicht erreichen konnte. Er wusste, was er wollte, aber er konnte es nicht vollbringen. Auf der leeren Straße, mit den Worten des Gedichts leise auf den Lippen, schloss er die Augen, ließ den Lenker los, streckte beide Hände zur Seite und fuhr in Schlangenlinien weiter.

Provinz Kabul
Kabul
Polizeipräsidium
Deh Afghanan
Am selben Tag
    Agentin in Ausbildung Nara Mir begnügte sich mit ihren Büchern, während sie auf ihren Lehrer wartete, den Genossen Leo Demidow. Er hatte sich mehrere Stunden verspätet, was nicht selten vorkam. Dieser unzuverlässige, sprunghafte Mann war wahrscheinlich der sonderbarste Mensch, der ihr je untergekommen war, auf jeden Fall der fremdartigste, vollkommen anders als sie selbst. Trotzdem freute sie sich auf seinen Unterricht, auch wenn man sich nur schwer vorstellen konnte, dass er einmal dem weltberühmten KGB angehört hatte. Sie war dreiundzwanzig Jahre alt, hatte ihre Ausbildung beinahe abgeschlossen und sollte bald als Agentin den ideologischen Schulunterricht überwachen. Dazu gehörte, Schüler zu beobachten, sie einzuschätzen und zu entscheiden, wer dem Regime wahrscheinlich nützen konnte und für eine Regierungsstelle vorgemerkt werden sollte und wer sich vielleicht zu einem Problem oder sogar zu einer Bedrohung entwickelte. Sie freute sich, den sozialen Wandel in vorderster Reihe mitzuerleben und eine Chance wahrzunehmen, die Frauen noch vor wenigen Jahren nicht offengestanden hätte.
    Nara war erst vor Kurzem rekrutiert worden, im Zuge der Umgestaltung der afghanischen Geheimpolizei, die drei Monate zuvor angestoßen wurde. Die Vorgängerorganisation KAM war berüchtigt als Geheimtrupp von Schlächtern und Sadisten, die kein höheres Ziel verfolgten und keiner Ideologie dienten. Für diese Truppe hätte sie nie

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