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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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erklärte:
    – Ich wollte sichergehen, dass ich die Weisheiten unserer Partei verstehe.
    Jedes Mal, wenn sie die Partei erwähnte, musterte Genosse Demidow sie aufmerksam, sicherlich, um ihre Loyalität zu prüfen. Er las aus ihrem Heft vor:
    – Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.
    Um ihn zu beeindrucken, führte sie das aus:
    – Selbst wenn man einem Menschen vertraut, sollte man ihn im Auge behalten. Das heißt, dass wir als Agenten nicht davon ausgehen dürfen, dass jemand unschuldig ist.
    – Wissen Sie, wer das gesagt hat?
    Mit einem Nicken antwortete Nara stolz:
    – Genosse Stalin.
    Leo musterte seine Schülerin, die Stalins Namen ausgesprochen hatte, als wäre er ein weiser, verehrter Dorfältester, allen ein Freund und niemandem ein Tyrann. Nara besaß bemerkenswert weiche Züge. In ihrem Gesicht fand sich nichts Eckiges, sie hatte runde Wangenknochen, eine kleine, runde Nase und, ihr auffälligstes Merkmal, große, hellgrüne Augen. Durch den blassen Farbton wirkten sie noch eindrucksvoller, sie sahen aus, als hätten sich wenige Tropfen Farbe mit Wasser vermischt. Sie strahlten eine große Neugier aus, und in Kombination mit ihrer Ernsthaftigkeit wirkte es, als wollte sie jede Einzelheit ihrer Umwelt in sich aufnehmen und begreifen. Ihr Gesicht und ihr Auftreten erinnerten ihn an ein junges Reh, bemüht um einen prachtvollen Eindruck als Hüter der Wälder, aber noch jung und ängstlich. Es war seltsam, sie mit einem Wesen zu vergleichen, das sie nie mit eigenen Augen gesehen, von dem sie vielleicht nicht einmal gehört hatte. Schon ihrem Äußeren nach hätte Leo gewettet, dass sie charakterlich nicht zur Agentin taugte. Bei ihrer sanften Offenheit konnte man sich nur schwer vorstellen, dass sie, wie man so sagte, notwendige Maßnahmen ergreifen würde. Würde sie ihre Landsleute verhaften können? Andererseits wusste Leo nur zu gut, dass der Schein trügen konnte.
    Stalins Worte waren für Nara indes nicht mehr als eine abstrakte Vorstellung, die sie aus Ehrgeiz auswendig gelernt hatte. Sie hatte diese Worte nie umgesetzt, hatte nicht gesehen, wie sie eine ganze Gesellschaft verändert und ein Volk geschaffen hatten, das niemandem vertrauen konnte, weder Familienmitgliedern noch Freunden oder Geliebten. Für die junge Frau war Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser ein kommunistischer Aphorismus, etwas, das man wiederholte, um gelobt zu werden. Sie war nicht nur ehrgeizig, sondern auch idealistisch, eine Utopistin, die tatsächlich an eine vollkommene Gesellschaft glaubte, die das Versprechen auf Fortschritt ernst nahm, ohne jeden Hauch von Zynismus oder irgendeinen Zweifel. In dieser Hinsicht erinnerte sie Leo stark an Elena. Vielleicht tolerierte er ihre fanatische Treue zum Kommunismus, weil er begriff, dass sie zu den Menschen gehörte, die ohne einen Traum nicht leben konnten. Vielleicht hatte er sich auch für sie erwärmt, weil durch ihre Gewissheit ein Hauch von Melancholie schimmerte, als wäre ihr Optimismus nur Tünche für eine verstörte Seele. Er glaubte nicht, dass sie nur im Unterrichtszimmer geblieben war, um zu lernen. Sie versteckte sich vor etwas zu Hause. Dazu passte, dass ihr bestimmtes Auftreten nicht natürlich wirkte, es war antrainiert. Manchmal schreckte sie zurück und distanzierte sich von einem Kommentar oder einer Anmerkung, aus Angst, sie könnte zu weit gegangen sein. Und genau wie Raisa betrachtete diese junge Frau Schönheit als eine gefährliche Eigenschaft. Sie bemühte sich bewusst, reizlos zu wirken, und trug absichtlich eine übergroße Uniform, die ihre Kurven verbarg. Das Haar trug sie immer zurückgebunden. Sie benutzte nie Make-up und legte nie Parfüm auf. Leo hatte sie schon erröten sehen, wenn jemand sie auch nur beachtete; sie hasste es, angestarrt zu werden, hasste deshalb vielleicht sogar ihre eigene Schönheit. Ihm fiel immer zugleich auf, wie schön und wie traurig sie war, als könnte man das eine nicht ohne das andere wahrnehmen.
    Weil die anderen Schüler schon gegangen waren, wollte Leo gerade auch Nara nach Hause schicken, als Hauptmann Waschtschenko den Raum betrat. Leo amüsierte sich darüber, dass der Hauptmann es offenbar als Schwäche ansah, an eine Tür zu klopfen, und als Zeichen von Stärke und Sieg über Anstandsregeln, einfach so hereinzuplatzen. Seit der Invasion zu Weihnachten hatten sich die beiden Männer mehrmals unterhalten, und Leo fand ihn recht geradlinig im Umgang. Ein kaltblütiges Verhalten war oft viel

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