Agent 6
gearbeitet. Die finstere Zeit ihrer Herrschaft war vorüber. Ein neuer Präsident versprach eine Ära der Zurückhaltung und Redlichkeit. Die Sowjets wollten Afghanistan zu einer großen Nation heranziehen, so groß wie die U d SSR selbst. Nara hatte vor, ihren Teil zu dieser Entwicklung beizutragen. Die benachbarte Usbekische Sozialistische Sowjetrepublik konnte sich einer hundertprozentigen Alphabetisierungsrate rühmen. In Afghanistan konnten nur zehn Prozent der Männer und nur zwei Prozent der Frauen lesen. Die Lebenserwartung betrug vierzig Jahre, in Usbekistan dagegen siebzig. Beinahe die Hälfte aller Kinder starben, bevor sie fünf Jahre alt wurden. Niemand konnte behaupten, der Status quo wäre erhaltenswert. Einen Durchbruch erreichte man nur mit radikalen Veränderungen. Gegenwehr war unvermeidlich. Um dem Fortschritt eine Chance zu geben, mussten Menschen wie sie das Regime beschützen. Man musste wachsam die Kräfte beobachten, die sich an die Vergangenheit klammern wollten. Einige Regionen Afghanistans waren in einer Lebensweise gefangen, die sich seit Jahrtausenden nicht verändert hatte, deshalb gab es und würde es immer gegen jede Reform Widerstand geben. Das war unausweichlich. Leider würde das Menschenleben kosten. So etwas war bedauerlich. In der Stadt Herat war es im letzten Jahr zu einem Aufstand gegen die Schulpflicht für Frauen gekommen. Sowjetische Berater, die dort gearbeitet hatten, waren auf die Straßen gezerrt und geköpft worden, ihre verstümmelten Leichen hatte man in einer grotesken Parade zur Schau gestellt. Die einzige Lösung, um den Aufstand beizulegen, hatte in einem Bombenangriff und vielen toten Zivilisten bestanden. Gewalt war ein notwendiges Hilfsmittel. Nara war überzeugt davon, dass diese blutigen Ausbrüche von wenigen einflussreichen Traditionalisten organisiert wurden, von Männern, die sie mit Freude steinigen lassen würden, weil sie eine Arbeit angenommen hatte und eine Uniform trug. Wenn man diese Dissidenten fassen könnte, würde man damit zigtausend Leben retten und das Leben von vielen Millionen deutlich verbessern.
Sie blickte auf ihre Uhr. Weil der Genosse Demidow immer noch nirgends zu sehen war, blätterte sie ihr Schreibheft durch und las in der Sammlung von Zitaten.
Ideen sind mächtiger als Waffen.
Wir würden unseren Gegnern keine Waffen gestatten, warum sollten wir ihnen also gestatten, ihre Ideen zu verbreiten?
Die Widerständler waren im Großen und Ganzen ungebildet, die meisten Kämpfer konnten weder lesen noch schreiben. Dafür hingen sie einer mächtigen Idee an – diese Invasion war unrecht, der
Kommunismus ein Gräuel aus dem Ausland, und am Ende würden sie siegen, egal wie viele gut ausgerüstete Soldaten hergeschickt wurden, um zu sterben. Gott stand auf ihrer Seite. Die Geschichte stand auf ihrer Seite. Das Schicksal stand auf ihrer Seite. Diese Auffassung, diese Ideen waren weit gefährlicher als ihre veralteten Waffen. Die Herausforderung hieß nun, diese Leute von dem Glauben abzubringen, dass ihr Sieg bereits festgeschrieben sei.
Als sie hörte, wie sich die Tür öffnete, blickte sie auf. Ihr Lehrer, Genosse Demidow, war gekommen. Mit seinem silbernen Haar, den graumelierten Bartstoppeln und der Haut, die viel dunkler war als bei den meisten Sowjets, unterschied er sich von den anderen Ausländern in jeder Hinsicht. Sie hatte ihn noch nie in einer Uniform gesehen. Mit seinem Äußeren gab er sich generell keine besondere Mühe. Er wirkte ständig abgelenkt, als wäre er immer in Tagträumen versunken, während die Wirklichkeit nur selten seine Aufmerksamkeit forderte. Er sah gut aus, dachte sie, verwarf die Beobachtung aber schnell als unwichtig.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass Nara als Einzige im Unterrichtsraum saß. Er fragte mit rauer, trockener Stimme:
– Wo sind die anderen?
Sie antwortete:
– Sie sind nach Hause gegangen.
Er betrachtete die leeren Schreibtische mit ausdrucksloser Miene, weder verärgert noch amüsiert. Besorgt, er könnte es als Kritik auffassen, erklärte sie:
– Der Unterricht sollte um zwölf Uhr anfangen.
Genosse Demidow warf einen Blick auf die Wanduhr. Er kam drei Stunden zu spät. An Nara gewandt fragte er:
– Sie sitzen hier schon seit drei Stunden?
– Ja.
– Wie lange wollten Sie noch warten?
– Ich bin froh, wenn ich hier den Stoff nachholen kann. Hier ist es ruhiger als zu Hause.
Er ging zu ihr, nahm ihr Schreibheft in die Hand und las die Zitate durch. Sie
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