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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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einfacher zu verstehen als Mäßigung. Wenn der Hauptmann die Wahl hatte, entschied er sich immer für ein möglichst aggressives Vorgehen. Von Förmlichkeiten hielt er nicht viel. Weder interessierten ihn Privilegien, noch ließ er sich von den Annehmlichkeiten verlocken, die ranghohen Militäroffizieren offenstanden. Er war nicht besonders groß, kräftig gebaut, und alles an ihm, sein Körper, seine Schultern, seine Brust und sein Kinn, wirkte gedrungen und kompakt. Leo fiel es überraschend schwer, den Mann nicht zu mögen. Waschtschenko zeigte keine erkennbar finstere Psyche, keinen Sadismus oder eine perverse Freude an Gewalt – ihn interessierte nur das Ergebnis. Kurz gesagt würde er alles tun, was nötig war, und auf gar keinen Fall nachgeben.
    Der Hauptmann wandte sich ungeduldig auf Russisch an Leo:
    – Letzte Nacht ist ein hochrangiger Offizier aus der 40. Armee verschwunden. Es gab kein Sicherheitsleck am Stützpunkt. Kein Anzeichen für einen Zwischenfall. Wir glauben, dass er desertiert ist. Auf dem Gelände fehlt ein Wagen. Meine Männer suchen ihn bereits. Wir haben an allen Straßen Kontrollpunkte aufgebaut, aber wir haben nichts gefunden. Wir brauchen Ihre Hilfe. Niemand kennt Kabul so gut wie Sie.
    – Abgesehen von den Afghanen.
    Der Hauptmann hatte keine Zeit für Leos schnippische Antwort, er drängte:
    – Wenn er in der Stadt ist, werden Sie ihn finden, davon bin ich überzeugt.
    – Wie wichtig ist er?
    – Wichtig. Noch wichtiger ist ein klares Zeichen, dass wir keine Fahnenflucht dulden.
    Das war der erste Deserteur, von dem Leo hörte. Er war sicher, dass noch viele folgen würden. Die Sommer hier waren lang und heiß, Krankheiten griffen um sich, und die Männer waren weit weg von zu Hause.
    Der Hauptmann bemerkte scheinbar jetzt erst Nara:
    – Gehört sie zu den Leuten, die Sie ausbilden?
    – Ja.
    – Nehmen Sie sie mit.
    – Sie ist noch nicht so weit.
    Der Hauptmann verwarf Leos Bedenken mit einer knappen Geste.
    – Wenn sie hier drinbleibt, wird sie nie so weit sein. Sehen Sie erst mal, wie sie mit einer echten Untersuchung fertig wird. Wir brauchen Agenten, keine Leute, die nur Theorie lernen. Also nehmen Sie die Frau mit.
    Nara Mir verstand, dass sich das Gespräch um sie drehte, und errötete.

Hauptquartier der 40. Armee
Tapa-e-Tajbeg-Palast
Zehn Kilometer südlich von Kabul
Am selben Tag
    Der Palast thronte auf einer Hügelkuppe mit Blick in ein Tal, hinter dem in der Ferne eine Bergkette aufragte – ein malerischer Standort, um die Besatzung Afghanistans zu leiten. Nach internationalen Maßstäben fiel der Palast bescheiden aus, er glich eher einem Herrenhaus, einem kolonialen Außenposten oder der Datscha eines Präsidenten, kein Vergleich zu den prunkvollen Zarenresidenzen. Mit seinen blassen Farben, den Säulen und großen Bogenfenstern hatte er dem König früher als Sommerpavillon gedient, wenn er der Hektik seiner Hauptstadt überdrüssig wurde. Der Hügel fiel so steil ab, dass nur der Palast auf seiner Kuppe Platz fand, die Gärten waren weiter unterhalb terrassenförmig angelegt. Früher hatte ein Schwarm Diener sie für königliche Vergnügungen bewässert und gepflegt, jetzt lagen sie unbeachtet, verwildert und verwittert da, in den vertrockneten Rosenbüschen hingen Zigarettenstummel und Patronenhülsen.
    Zusammen mit Nara stieg Leo aus dem Auto. Er trug immer noch die grünen Flipflops und die Kleidung, in der er am Vortag in den See gegangen war. Er war schon früher in den Palast zitiert worden, wie ein Missetäter, um sich vorwerfen zu lassen, er würde keine angemessene Uniform tragen und sich nicht rasieren. Die Äußerungen stammten von Männern, die erst kurz zuvor angekommen waren und noch nicht begriffen hatten, welch enorme Aufgabe vor ihnen lag; Männer, die an kleinlichen Regeln festhielten, während sich ganze Divisionen absetzten und das afghanische Militär auseinanderbrach. Obwohl er ihre Kritik nicht weiter beachtet hatte, bezweifelte er doch, dass sie ihn deshalb noch einmal ermahnen würden. Seitdem waren mehrere Monate vergangen – Leos Vorgesetzte hatten sich längst mit größeren Problemen beschäftigen müssen.
    Sie wurden in den Palast geführt und knapp vorgestellt. Dem sowjetischen Führungsstab war es extrem peinlich, dass ein Mitglied aus seinen Reihen verschwunden war, und es gefiel ihm nicht, Leo und Nara dort zu haben, vor allem nicht mit der Unterstellung, Nara könnte bei etwas helfen, bei dem die eigenen

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