Agent 6
Männer versagt hatten. Die Innenräume waren durch Kämpfe beschädigt, die königliche Leichtlebigkeit hatte der Krieg entthront. Kunstvolle, dekorative Antiquitäten dienten jetzt praktischen Zwecken und trugen wuchtige Funkgeräte. Die Ausrüstung der Armee, die den Palast besetzt hielt, war hässlich und passte nicht in die Umgebung; der ursprüngliche Zweck des Gebäudes, Vergnügen, Dekadenz und Schönheit, interessierte die strengen neuen Bewohner nicht. Landkarten mit eingezeichneten Panzerstellungen und Armeedivisionen hingen an Wänden, von denen früher Kunstwerke und königliche Porträts herabgeblickt hatten.
Sie wurden in die Wohnbereiche gebracht. Den vermissten Offizier hatte man mittlerweile zum Deserteur erklärt, ohne das Ergebnis der Ermittlung abzuwarten. Allerdings konnte sich Leo ehrlich gesagt nicht vorstellen, was mit dem Mann sonst geschehen sein sollte. Er hieß Fjodor Masurow und war mit Anfang dreißig jung für einen so wichtigen Posten. Er war bewundernswert schnell aufgestiegen. Anhand seiner Akte fiel Leo auf, dass Masurow im Ausland keine und im Kampf nur wenig Erfahrung gesammelt hatte. Er war ein Karrieresoldat, und Leo konnte sich gut vorstellen, welchen Schock er bei seiner Ankunft in Afghanistan erlitten hatte, so weit entfernt von seiner vertrauten Umgebung. Nara fragte:
– Warum sind wir hierhergefahren? Wir wissen doch, dass er in Kabul ist. Sein Zimmer wurde schon durchsucht, hier war nichts. Was erhoffen Sie sich zu finden?
Leo antwortete schulterzuckend:
– Vielleicht wurde etwas übersehen.
Nara hakte nach:
– Was denn zum Beispiel?
– Ein Zimmer verrät uns viel über einen Menschen.
Nara verzog tief konzentriert das Gesicht, während sie überlegte, was er damit gemeint haben könnte. Als ihr keine Antwort einfiel, bemerkte sie:
– In der Sowjetunion kann es ja sinnvoll sein, eine Wohnung zu durchsuchen, aber in Afghanistan besitzen die meisten Menschen kaum etwas, ein wenig Kleidung, ein paar Möbel, Kochgeschirr. Ein Zimmer sagt uns nichts über den Menschen. Gilt das nicht auch für sowjetische Soldaten? Sie bekommen eine Standardausrüstung. Worin könnte sich ein Zimmer von einem anderen unterscheiden?
– Es gibt immer Unterschiede. Auch wenn zwei Menschen genau die gleichen Gegenstände besitzen, kann es interessant sein, wie sie die Sachen aufbewahren. Und es gibt vieles, was nicht einheitlich ist. Was ist mit Geld, Zigaretten, Alkohol, Briefen, Unterlagen, einem Tagebuch …?
Nara überlegte:
– Ein Tagebuch? Führen viele Russen Tagebücher?
– Mehr Frauen als Männer, aber Soldaten hilft es oft, wenn sie aufschreiben, was am Tag passiert ist.
– Ich glaube, es gibt in ganz Kabul keine fünfzig Tagebücher, vielleicht in ganz Afghanistan nicht. Glauben Sie, dass dieser Soldat ein Tagebuch hatte?
– Das werden wir gleich sehen.
Fjodor Masurow war ein kleines Schlafzimmer im obersten Stock zugewiesen worden. Eine sonderbare Unterbringung für einen Offizier, der eine blutige Besatzung leitete. Statt in einem stählernen Etagenbett, wie beim Militär üblich, hatte Masurow in einem prächtigen Himmelbett geschlafen, aus dem einzigen Grund, weil das Bett da war und schließlich benutzt werden musste. Außerdem befanden sich in dem Zimmer ein völlig zerschlagener Kronleuchter, der an zersplitterte Zähne denken ließ, und ein Sekretär aus Walnussholz, eines der wenigen Möbelstücke im Palast, die unversehrt waren. Von der Wand über dem Bett starrte ein Porträt von Lenin herab, eilig festgenagelt und zu klein für diese Stelle, denn der Schatten, den das vorherige Bild auf der Tapete hinterlassen hatte, war deutlich größer.
Leo durchquerte den Raum und sah sich um. Ein Mann hatte dieses kleine Zimmer für sich bekommen – sicherlich würde sein Charakter Spuren hinterlassen haben. Nara blieb an der Tür stehen, um ihn nicht zu stören, und beobachtete ihn skeptisch. Leo fragte sie:
– Was sehen Sie?
Sie suchte das Zimmer wenig zuversichtlich mit dem Blick ab, weil sie bezweifelte, dass sie etwas Interessantes finden konnte. Leo winkte sie zu sich.
– Kommen Sie her.
Sie stellte sich neben ihn und betrachtete das Zimmer aus seinem Blickwinkel. Dann sagte sie:
– Ich sehe ein Bett.
Leo trat vor und spähte unter das Bett. Dort stand ein Stiefelpaar. Er untersuchte die Sohlen. Die typischen robusten Militärstiefel aus schwarzem Leder waren für Afghanistan zu warm und standen noch hier, weil sie unpraktisch
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