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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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waren. Er stand auf, schob eine Hand unter die Matratze und drehte sie um. Darunter war nichts. Als er den Sekretär untersuchte, fand er ihn leer vor. Auch der Papierkorb war geleert worden. Leo sagte zu Nara:
    – Nichts zu finden kann eine nützliche Entdeckung sein. Wir wissen jetzt, dass es keine spontane oder impulsive Entscheidung war wegzugehen. Er hat das gründlich durchdacht. Er hat alles, was ihm gehörte, verschwinden lassen, weil er wusste, dass wir das Zimmer durchsuchen.
    Leo öffnete die Schublade und war überrascht, als ihn sein eigenes Gesicht anstarrte. In dem Fach lag ein verzierter Spiegel, größer als das Porträt von Lenin, ein Wandspiegel. Er hielt ihn hoch und untersuchte ihn. Der Spiegel war schwer, eine Antiquität mit einer silbernen Rückseite und einem eingravierten Muster an den Rändern. Er blickte sich im Zimmer um.
    – Woher kommt der Spiegel?
    Nara deutete auf Lenins Bild.
    – Hat er den Spiegel nicht mit Lenin ausgetauscht?
    – Nein, er ist viel kleiner als das Bild, das da hing.
    Leo untersuchte die Oberfläche: Die Ränder waren mit Fingerabdrücken übersät.
    – Jemand hat den Spiegel oft angefasst.
    Auf Russisch fragte er den Wachmann neben der Tür:
    – Wissen Sie, woher dieser Spiegel kommt?
    Als der Wachmann den Kopf schüttelte, fragte Leo:
    – Wo ist das Badezimmer?
    Mit dem Spiegel unter dem Arm ließ sich Leo, gefolgt von Nara, den Weg zum Bad zeigen, einem schummrigen Raum, dem die Kämpfe arg zugesetzt hatten: Die Fenster waren zerbrochen und mit Brettern ausgebessert, alle Spiegel zerschlagen.
    – Hier ist kein einziger Spiegel.
    Leo wandte sich an den Wachmann.
    – Wie rasieren Sie sich?
    Der Wachmann zuckte mit den Schultern.
    – Ich wohne hier nicht.
    Leo lief zurück auf den Gang und untersuchte die Schatten an den Wänden. Einer schien zu passen. Leo hielt den Spiegel davor: Er hatte die gleiche Größe, hier hatte er ursprünglich gehangen. Leo warf Nara einen Blick zu.
    – Er hat einen der letzten intakten Spiegel im Haus genommen und in seinem Zimmer aufbewahrt.
    Nara kam näher. Als sie langsam begriff, wie es funktionierte und welche Bedeutung ihre Entdeckung hatte, wurde sie aufgeregt.
    – Also hat er Wert auf sein Aussehen gelegt?
    – Und was bedeutet das?
    – Dass er eitel war?
    – Dass er eine Frau kennengelernt hat.

Provinz Kabul
Kabul
Murad-Khane-Viertel
Am selben Tag
    Nara leistete unschätzbare Hilfe dabei, die Liste von Frauen auszuwerten, mit denen der desertierte Offizier Kontakt hatte. Die meisten kannte sie persönlich oder dem Ruf nach, sie konnte rasch alle ausschließen, die sich nie in eine skandalöse Liebesgeschichte verstrickt hätten. Leo bezweifelte, dass Nara verstand, wie Liebe selbst den verlässlichsten Menschen zu unvorhersehbarem Verhalten treiben konnte; er bezweifelte, dass sie schon einmal verliebt war. Trotzdem beschloss er, ihr zu vertrauen, weil er selbst nahezu nichts über die Frauen auf der Liste wusste.
    Obwohl Fjodor Masurow bereits seit drei Monaten im Land war, dürften sich nur wenige Gelegenheiten für eine Romanze ergeben haben. Im Gegensatz zu vielen Kriegsgebieten und Hauptstädten gab es in Kabul keine Bordelle, allerdings hatte Leo von mehreren ranghohen Militärs gehört, dass man überlegte, einige dieser Etablissements für den Zustrom an Soldaten einzurichten. Die Frauen würde man aus dem Ausland herbringen, vielleicht aus kommunistischen verbündeten Ländern im Osten, man würde sie einfliegen wie Kisten mit Patronen oder Artilleriegeschossen, die Bordelle nicht als kommerzielle Unternehmen führen, sondern als Teil der militärischen Infrastruktur, und alles geheim halten, um nicht die religiösen Gefühle der örtlichen Bevölkerung zu verletzen. Da dieses Projekt, das sicher irgendeinen anzüglichen Codenamen erhalten hatten, noch nicht umgesetzt war, musste sich der junge Offizier in eine Afghanin verliebt haben. Der Status von Frauen in diesem Land bedeutete, dass es keine weiblichen Ladenbesitzerinnen gab, keine Frauen, die ihre Freizeit in einer Teestube verbrachten, und dass kaum eine Chance auf eine zufällige Begegnung auf der Straße bestand. Nara beharrte darauf, dass die Frau aus der Oberschicht stammen musste, weil nur dort Frauen zu einem gewissen Teil integriert waren. Als sie Masurows Liste mit Terminen und Pflichten durchgingen, stach ein Name hervor. Der Offizier hatte sich regelmäßig mit einem afghanischen Minister getroffen, einem Mitglied der

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