Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)
spielen; das machte es ihm auf jeden Fall leichter, sein Verhalten zu ändern, statt zum »Helfer« seines Sohnes zu werden. Mir sind im Lauf der Zeit Hunderte Väter über den Weg gelaufen, die ihre Söhne vor Diagnosen und Therapien bewahrt haben, einfach nur weil sie bereit waren, eine viertel oder halbe Stunde mit ihnen in einer spielerischen und freundschaftlichen Art zu ringen. Der intensive Körperkontakt ermöglicht es den Jungen zu lernen, wie sie ihre männliche Energie verwandeln und selbstsicher werden können.
Dasselbe gilt für eine relativ geringe Zahl von Mädchen, die ebenfalls ein »Aggressionsproblem« haben. Wenn Mütter keinen Zugang zu ihrer eigenen maskulinen Seite haben und diese eher ablehnen, dann sollten sich Mädchen so oft wie möglich an ihre Väter halten. Mädchen, die wir als »Wildfang« bezeichnen – sie ziehen es vor, mit Jungs auf Bäume zu klettern, statt mit Barbie-Puppen zu spielen –, entwickeln äußerst selten ein aggressives Verhalten, das sozial störend wirkt.
»Und wenn du nicht, dann …!«
Dieser Satz wird sehr häufig von Erwachsenen verwendet, wenn sie versuchen, unerwünschtes Verhalten von Kindern zu unterbinden. Er spiegelt den Erziehungsstil wider, der unter Eltern zu Beginn des Industriezeitalters verbreitet und in einem gewisse Sinne auch notwendig war – der Stil eines Zeitalters, in dem die Fähigkeit, sich zu unterwerfen und anzupassen, angebracht war; gehorsam zu sein gegenüber Autoritäten, war das Gebot der Stunde: für Jungen, um sich einen Arbeitsplatz zu sichern, für Mädchen, um verheiratet zu werden. Damals hatte die Kindheit an sich keinen Wert – sie war bloß eine Vorbereitung aufs Erwachsenenleben, welches möglichst ab dem 12. Lebensjahr zu beginnen hatte.
Heute verwenden Eltern und Erzieher die Begriffe Regeln und Strafe ungern. Stattdessen sprechen sie über Grenzen und Konsequenzen. Trotzdem hängen sie am selben alten Konzept fest, dem zufolge es kein wichtigeres Ziel gibt, als Kinder angepasst und konform zu machen. Kinder antworten heute viel freier auf dieses Erziehungsregime – die Art und Weise, wie sie antworten, wird oft als »Mangel an sozialer Kompetenz« oder »Autoritätsproblem« beurteilt.
Die Terminologie hat sich zwar der politischen Korrektheit angepasst, die dem Phänomen innewohnende Logik ist aber die gleiche geblieben: Wenn du meine Regeln nicht beachtest, werde ich entweder deine Integrität verletzen oder dir die Zugehörigkeit zu mir verweigern. Das ist Aggression in Reinform! Und weil Kinder kooperieren, indem sie das Verhalten der Eltern nachahmen, führt dies sehr bald (oder zehn bis zwanzig Jahre später) zu destruktiver Aggression oder selbstdestruktivem Verhalten.
Ist es jedoch nicht wichtig, dass Kinder die Erfahrung machen, dass ihr Verhalten Konsequenzen hat? Ja, das stimmt. Alles, was wir tun, hat Konsequenzen – entweder erwünschte oder ungewollte. Beide sind für den Lernprozess eines Kindes wie eines Erwachsenen essentiell – sie sind eine Goldmine, das wahre Wesen dessen, was wir »experimentelles Lernen« nennen; das heißt von unserer und durch unsere eigene Erfahrung lernen, statt ständig unterrichtet und belehrt zu werden.
Wenn ein Kind versucht, auf einen Baum zu klettern, und Eltern das als »gefährlich« betrachten, werden sie ihm gewiss Folgendes sagen:
Tu das nicht! Du bist zu klein und das ist noch zu gefährlich für dich!
Ich habe dir gesagt, dem Baum fernzubleiben, und wenn du das nicht tust, dann …!
(beim dritten Mal) Muss ich dir wirklich einen Klaps auf den Hintern geben, damit du mir folgst? – Klaps!!
Die Sorge des Erwachsenen eskaliert und wird sehr schnell zur Aggression, lediglich weil das Kind seinem natürlichen Instinkt folgt und über die Ziele, die es sich setzt und die noch jenseits seiner momentanen Fähigkeiten liegen, etwas lernen will.
Der Klaps auf den Hintern oder die Beschimpfung sind keine Konsequenzen – sondern eine Strafe. Wenn man es dem Jungen erlaubt, in den experimentellen Lernprozess hineinzugehen, wird er höchstwahrscheinlich einige Male hinfallen und seinen Hintern verletzen. Der Schmerz ist eine natürliche Konsequenz seines Versuches, etwas zu unternehmen, für das sein Körper noch nicht bereit ist. Diese Lektion wird er sich merken, ohne dass seine Integrität verletzt, seine Lust und Bereitschaft zu lernen und sich zu entwickeln behindert, seine Selbstdisziplin und Ambition gestört wird. Und das Wichtigste dabei ist, dass seine
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