Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)
junge Seele nicht mit Schuld und Scham belastet wird.
Das Einzige, was seine Eltern machen müssen, ist, ihm zuzuschauen und seine Begierde, sich weiterzuentwickeln, zu genießen. Wenn er fällt, sollten sie sein Gesicht beobachten und dann entweder fragen: »Hat das weh getan?«, oder bestätigen: »Oh, das hat aber weh getan … Brauchst du Hilfe?«. Einige hundert solcher geteilten Erfahrungen – und das Kind wird in der Lage sein, beim Schulstart Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen auszustrahlen, und vor keiner schulischen Herausforderung zurückschrecken, nur weil sie neu und ungewohnt ist. Zudem bringt es die wertvolle Grunderfahrung mit, dass Erwachsene für es da sind, wenn es sie braucht, und nicht umgekehrt. Es wird keinen Grund haben, frustriert und wütend auf die Welt zu sein. Der Vorteil für seine Eltern besteht darin, dass sie ihrerseits lernen, ihrem Kind Vertrauen entgegenzubringen, folglich können sie sich entspannen und ihre Energie in anderen Bereichen ihres Lebens einbringen.
So haben Kinder von alters her Erfahrungen gesammelt und gelernt – ein ganz natürlicher Weg. Auch haben sie viel gelernt, indem sie Erwachsene beobachtet haben. In unserer heutigen Gesellschaft ist beides etwas schwierig geworden. Kinder verbringen in Großstädten nicht sehr viel Zeit mit ihren Eltern und Großeltern, in der Vorschule und im Kindergarten definieren Versicherungsgesellschaften und Bürokraten die Standards. Die Versicherungsgesellschaften wollen das Risiko minimieren, und die Bürokraten wollen nicht in die Kritik geraten. Beide Seiten sind kaum daran interessiert, die Lernmöglichkeiten von Kindern zu optimieren.
Die Tatsache, dass Kinder heute kaum »erwachsenenfreie Zonen« haben, stellt ein zusätzliches Hindernis für ihren natürlichen Lernprozess dar. Sie sind rund um die Uhr von wohlmeinenden Erwachsenen, die sich konstant nützlich machen wollen, umgeben und werden von ihnen ständig beraten. Hinzuzufügen ist, dass unsere Institutionen Kindern nur die Hälfte des Raumes anbieten können, den Kinder physisch brauchen, um sich zu entfalten. Hinzu kommt der Geräuschpegel in vielen Institutionen und die dürftige Zahl an Betreuungspersonal. Sehr wenige können oder wollen individuellen Bedürfnissen und Wünschen Aufmerksamkeit schenken. In 90% der Fälle geht es um Anpassung, konformes Verhalten und Funktionieren. Kein Wunder, wenn einige Kinder auf all dies in einer aggressiven Weise antworten oder sich zurückziehen und resignieren.
Die Reaktionen seitens der Kinder, die sogenannten Wutanfälle, die sie bekommen, wenn sie zurück nach Hause kommen und Dampf ablassen oder etwas individuelle Aufmerksamkeit erfahren wollen, sind soziale Reaktionen – wir könnten sie auch systemische Reaktionen nennen. Mit anderen Worten: Es handelt sich um Feedbacks, die für die verantwortlichen Erwachsenen von hohem Wert sind – das heißt ein Beweis großer sozialer Kompetenz. Und dafür bestrafen wir sie und schicken sie in Einzeltherapie?! Das ist eine extrem aggressive Reaktion, die sich als Hilfe und Sorge maskiert und ausgibt. Kinder werden auf diese Weise höchst ungerecht behandelt – und zwar aus einem einzigen Grund: weil sie ihre emotionale Reaktion nicht intellektuell vermitteln können. Doch genau dazu sollten ihre Eltern, Erzieher und Lehrer fähig sein! Stattdessen problematisieren Erwachsene ihre emotionale Reaktion und marginalisieren sie.
Folgender Dialog zwischen der Mutter eines dreijährigen Kindes und einer amerikanischen Kinderärztin ist diesbezüglich sehr aufschlussreich.
Mutter: Frau Doktor, mein Sohn leidet unter Gemütsschwankungen, und wir haben bereits alles Mögliche versucht, aber es wird nicht besser …
Ärztin: Ja, ein schwieriges Alter. Sie sollten eine Evaluierung seines Verhaltens in Erwägung ziehen, denn es könnte sich um das Phänomen handeln, das wir heute eine »bipolare Störung« nennen. Und wenn das sein Problem ist, können wir eine gute Medikation empfehlen.«
Ein aussagekräftige und eindeutig professionelle Antwort wäre gewesen: »Ich verstehe Sie. Wissen Sie, in diesem Alter sind die meisten Kinder oft frustriert, weil sie alles machen wollen und konstant an ihre eigenen Grenzen stoßen. Ihrer Beschreibung nach würde ich sagen, Sie haben einen normalen und gesunden Sohn. Aber vielleicht leiden Sie an seinen Gemütsschwankungen? Brauchen vielleicht Sie Hilfe?«
Vielleicht hat die gute Hausärztin die Mutter zudem mit der Information versorgt,
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