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Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)

Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)

Titel: Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesper Juul
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dass »bipolar« im Spektrum der Diagnosen so etwas wie der »neue Stern am Himmel« ist, und dass die Medikation Kinder einfach nur lahmlegt, ihre Vitalität blockiert und sie für Kinder völlig ungeeignet ist.
    »Aber Eltern wollen eine Diagnose«, meinen Ärzte. Doch ist dies nicht wahr. Kein Vater, keine Mutter mit gesundem Menschenverstand möchte, dass sein oder ihr Kind nicht normal ist. Was sie verzweifelt suchen, ist eine Erklärung für das Verhalten ihres Kindes, und wenn eine Autorität eine Diagnose als Erklärung anbietet, werden die Eltern für einen Augenblick erlöst sein. Die professionell sensibelste Empfehlung ist, die ganze Familie einem Familientherapeuten zu überlassen, denn nur dieser wird die Interaktion zwischen den einzelnen Familienmitgliedern beobachten, die Eltern inspirieren oder ihnen einen Leitfaden anbieten können. Danach muss man aufs Ergebnis warten. Wenn sich in drei bis vier Wochen keine Veränderung einstellt, muss die Beobachtung auf andere primäre Beziehungen des Kindes ausgedehnt werden – die Kita, den Kindergarten, die Tagesmutter usw. Wenn sich auch danach keine qualitative Veränderung im Verhalten des Kindes einstellt, ist der nächste Schritt der, einen Spezialisten zu konsultieren. Aber es könnte auch empfehlenswert sein, einfach geduldig abzuwarten und zu sehen, was nach einem oder zwei Jahren geschehen ist. Sollte die Mutter oder der Vater oder beide verzweifelt, ungeduldig und erschöpft sein, dann sollten sie an eine Beratungsstelle überwiesen, oder es müsste ihnen eine angemessene Medikation angeboten werden, die zunächst etwas beruhigt.
    Wenn die einzige Alternative die ist, einem Kind Beruhigungsmittel zu verabreichen – und das wird häufig getan –, um die vorgetragene Diagnose zu bestätigen, dann ist aus ethischer Sicht die minimale Anforderung eines Arztes die, dem Kind die Wahrheit zu sagen: »Wir verschreiben dir jetzt Medikamente, weil deine Eltern nicht mehr wissen, was sie tun sollen, und ich weiß es auch nicht.«
    Warum wird dies nicht getan? Wenn ich mit Verwaltern und Menschen, die im sozialen Dienst oder im Gesundheitswesen arbeiten, spreche, lautet die Antwort: »Wir verfügen über keine Ressourcen.« (Das allgemein verständliche Synonym für Ressourcen heißt Geld.) Sie scheinen sich dessen nicht bewusst zu sein: Wenn einem Kind eine Diagnose verpasst wird, werden die Kosten später noch viel größer sein und sich über eine lange Zeitspanne erstrecken. Diese Bürde auf die Schultern der Kinder zu schieben ist leichter und stimmt im Übrigen mit der Tradition überein – sie macht es Eltern, Erziehern und Lehrern möglich zu behaupten: »Läuft die Beziehung zu einem Kind prima, ist es mein Erfolg. Wenn nicht, ist etwas mit dem Kind nicht in Ordnung.« Stellen wir uns eine auf Liebe beruhende Beziehung zwischen zwei Erwachsenen mit ähnlichen Prämissen vor – sie wäre für beide die Hölle und käme zu einem raschen Ende.
    Ich glaube, dass es nach dreihundert Jahren, in denen wir Kinder ungerecht behandelt und mit zweierlei Maß gemessen haben, an der Zeit ist, dass wir Erwachsene reif werden und die Verantwortung für uns sowie unseren Einfluss auf unsere Kinder und Schüler übernehmen.
    Ich weiß aus Erfahrung, dass einzig dieser entscheidende Schritt die Aggression zwischen Kindern sowie die zwischen Erwachsenen und Kindern um 50% reduzieren wird.

Aggression zwischen Kindern
    In diesem Abschnitt geht es um Aggression, den Kampf zwischen Geschwistern und Mobbing in der Schule.
    Wenn ein zweites Kind in einer Familie zur Welt kommt, erleidet das erstgeborene einen ernsthaften Verlust. Es verliert 50% von allem, was es bis zu diesem Zeitpunkt hatte. Die Liebe seiner Eltern verliert es zwar nicht, aber deren Zeit, Aufmerksamkeit, Betreuung und vieles mehr, was für ein Kind von großer Bedeutung ist, muss es teilen. Die Veränderung fordert von ihm zweierlei: Es muss sein Selbstbild der neuen Situation anpassen und für ein Maximum an elterlicher Zuwendung wetteifern. Das ist die Realität aus der Sicht des Kindes.
    Folglich stellen sich zwischen den meisten Geschwistern längere oder kürzere Perioden des Streits und Kampfes ein – insbesondere der Esstisch und die rückwärtigen Sitze im Familienauto sind bevorzugte Austragungsorte. Wie immer sind Jungen eher frontal, direkt und körperlich im Umgang, während Mädchen ihre Aggression verbal und subtil zeigen. In diesen Kämpfen oder Streitereien geht es nicht um Liebe und

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