Agnes: Roman (German Edition)
Polonaise begonnen und schoß kreuz und quer durch die Zuschauer, die kreischend beiseite sprangen. Dann sah ich eine Gruppe von Frauen in Kostümen aus weißem Tüll und goldenen Bändern. Die Frauen trugen glitzernde Halbmasken. Obwohl sie im Durcheinander kaum zu sehen waren, bildete ich mir ein, eine von ihnen bewege sich wie Agnes, habe denselben etwas steifen Gang.
»Ich habe Masken schon als Kind nicht gemocht«, sagte ich und trat einen Schritt zurück.
»Schauen Sie die Bräute dort unten«, sagte die Frau, »Wollstrumpfhosen und weißer Tüll, der Traum eines jeden Bräutigams.«
»Ich glaube, es sind Elfen«, sagte ich.
»Das erkennt man wohl an den Wollunterhosen«, sagte die Frau. »Mir tun die amerikanischen Männer leid.«
»Nicht alle tragen wollene Unterwäsche«, sagte ich.
»Ah, habe ich etwas Falsches gesagt? Haben Sie eine kleine Freundin hier? Kommen Sie, wir gehen hinein. Es ist zu kalt hier draußen.«
Die Frau trat in den Saal zurück. Ich schaute den Elfen nach und war jetzt ganz sicher, daß Agnes unter ihnen war. Dann folgte ich der Frau, die an der offenen Tür auf mich wartete.
»Wie Kinder«, sagte sie. »Darf ich mich vorstellen? Ich heiße Louise. Von der Pullman Leasing.«
Louise erzählte, sie sei die Tochter eines französischen Kornhändlers und einer Amerikanerin. Sie lebe seit fünfzehn Jahren in Chicago, habe hier studiert und arbeite in der Public Relations-Abteilung der Pullman Leasing, einer Firma, die Güterwagen vermietet. Sie habe sich noch immer nicht an die Mentalität der Leute hier gewöhnt, sagte sie, obwohl sie ihr halbes Leben in den Vereinigten Staaten verbracht habe.
»Es sind Wilde«, sagte sie immer wieder, »dekadente Wilde.«
Wir sprachen über Europa und Amerika, über Paris und die Schweiz. Dann erzählte ich Louise von meinem Buch, und sie sagte, ich solle doch einmal bei ihr in der Firma vorbeischauen. Die Waggonfabrik Pullman sei die Muttergesellschaft der Pullman Leasing gewesen, und im Archiv gebe es sicher Dokumente, die ich in der öffentlichen Bibliothek nicht finden würde. Ich dankte ihr und versprach zu kommen. Als ich die Party nach Mitternacht verließ, gab sie mir ihre Karte und schrieb von Hand ihre private Telefonnummer darauf. Dann küßte sie mich auf die Wangen und sagte: »Ruf mich an. Ich habe mich schon lange nicht mehr so gut unterhalten.«
19
Nach der Party der Amtrak war ich zur Universität gegangen. Die Aula war zum Bersten voll, und nachdem ich mich wohl eine halbe Stunde lang vergeblich nach Agnes umgeschaut hatte, gab ich es auf und ging nach Hause.
Als Agnes irgendwann gegen Morgen in die Wohnung kam, erwachte ich. Ich war erleichtert, als ich sah, daß sie nicht das Kostüm jener Elfen trug, die ich vom Balkon aus gesehen hatte. Sie hatte Schwierigkeiten, ihr Kleid auszuziehen, aber als ich ihr helfen wollte, trat sie einen Schritt zurück und zerrte so heftig daran, daß eine Naht riß. Das Kleid glitt zu Boden, und Agnes stand leicht schwankend in hellbeiger Wollunterwäsche vor mir. Ihr Gesicht glänzte trotz der Schminke, die sie gegen ihre Gewohnheit trug.
»Schau mich nicht so an«, sagte sie, »ich bin betrunken.«
Sie ging zu Bett und verkroch sich unter der Decke. Ich legte mich neben sie und wollte sie an mich ziehen, aber sie drehte sich von mir weg und murmelte: »Laß. Ich bin todmüde.«
Am Morgen war Agnes schlecht gelaunt. Sie hatte Kopfschmerzen und klagte über Schwindel. Der Umzug war schon um zehn Uhr zu Ende gewesen, und sie hatte stundenlang auf mich gewartet. Dann hatte sie mich am Eingang des Saals entdeckt, hatte mich gerufen, aber ich hatte sie nicht gehört. Als sie sich endlich durch den Saal gekämpft hatte, war ich verschwunden. Danach hatte sie sich mit ihren Elfenkolleginnen vom Mathematischen Institut betrunken.
»Ich habe den Umzug gesehen und habe gemeint, dich zu erkennen. Aber du warst es nicht. Der Umzug war toll.«
»Das kann nur wissen, wer mitmacht.«
Agnes lag fast den ganzen Tag im Bett und las, während ich zu arbeiten versuchte. Als es schon dämmerte, kam sie in mein Arbeitszimmer. Sie trat ans Fenster und blieb dort mit dem Rücken zu mir stehen. »Geht es dir besser?« fragte ich.
»Ja«, sagte sie, »ich möchte dich etwas fragen.«
Ich schaltete den Computer aus und drehte mich auf dem Stuhl zu ihr. Sie schaute noch immer aus dem Fenster. Endlich fragte sie: »Was machst du eigentlich, wenn du dein Buch fertig geschrieben hast?«
»Dann schreibe ich das
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