Agrippina - Kaiserin von Rom
wiederzugewinnen, meinen ... meinen Schoß für ihn öffne!«
Ungläubig blickte Valerius Agrippina an.
»Inzest!«, sagte Niger leise. »In den Gassen Roms hält sich hartnäckig das Gerücht, die edle Augusta scheue selbst vor diesem verabscheuungswürdigen Delikt nicht zurück, um ihren Sohn wieder an sich zu binden. Sie singen schon Spottverse darüber.«
»Welche Spottverse?«
»Ich scheue mich, das zu zitieren.«
»Tu es, Tullius, tu es. Keine Scheu! Der Tribun soll alles erfahren!«
»Nun ...« Niger zögerte. »Sie ... sie singen ...«
»Was singen sie?« – »Sie singen:
Aeneas hatte früher mal den Vater mitgeführt,
Nero nun, sein Enkelsohn, die Mutter hat verführt,
an Abwechslung ist er nicht arm,
im Schoß der Mutter ist es warm ...
Valerius schüttelte angewidert den Kopf.
»Und die schöne Poppaea hat das inszeniert?«
»Wer sonst?«, schrie Agrippina, und eine Träne stahl sich aus ihren Augenwinkeln.
»Habe ich nicht genug gelitten? Hat nicht mein Bruder Gaius Caligula, das Scheusal, mich und meine Schwestern ins Bett der Lust gezwungen, um mich danach an seine ekligen Lustknaben weiterzureichen?«
Agrippina atmete tief ein, ihre Finger fuhren fahrig über die Falten ihres Gewandes. Die Erinnerung schien sie zu quälen.
»Sie hasst mich!«
Agrippina hatte sich wieder gefasst. »Sie hasst mich, weil sie weiß, dass ich eine Verbindung mit ihr niemals zulassen werde. Des Nachts, wenn er werbend vor ihrer Kammer steht, dann flüstert sie ihm zu – man hat es mir wörtlich überbracht –: ›Du bist nicht der wahre Kaiser von Rom, der wahre Herrscher ist deine Mutter. Du glaubst, es genügt, sie in ihr Haus zu sperren, aber die wichtigen Entscheidungen fallen dort, nicht hier im Palast. Die Prätoren, Aedilen und Senatoren, sie laufen zu Antonias Palast, wenn sie ein Anliegen haben, nicht hierhin!‹ Dann hat die Furie meinem Sohn eine Münze an den Kopf geworfen, die mein Gesicht zeigt, und gerufen: ›Sie prägt schon Münzen auf ihren Kopf. Sei froh, Kaiserlein, dass dein Gesicht immerhin noch auf der Rückseite zu sehen ist!‹ Mit solchen und ähnlichen Sprüchen spritzt sie ein Gift in das Herz meines Sohnes, gegen das ein Trank von Locusta ein harmloses Abführmittel ist.«
Erschöpft und mit vor Empörung geröteten Wangen hielt sie inne und griff gierig nach einem Becher Wein, während die Männer sich bestürzt ansahen. Valerius hatte das Ausmaß des Hasses der beiden Frauen gegeneinander nicht einmal ansatzweise geahnt. Aber Agrippina war noch nicht fertig.
Mit leiser Stimme fuhr sie fort: »Mein Sohn hat sich verändert. Aus einem erhabenen Kaiser ist ein Wagenlenker, Schauspieler und Musiker geworden. Diese Künste scheinen ihm mehr zu gelten als die Regentschaft über das Reich. Stellt euch vor«, rief sie empört aus, »wie er bei seinem letzten Besuch aussah: Die Haare trug er wie ein ordinärer Wagenlenker, vorn in Stufen geschnitten, hintenin Wellen ansteigend. So sieht kein Römer aus, oder? Ein schreiend buntes Gewand mit Blumenmuster trug er, unterhalb der Hüfte sah es aus wie eine weite Toga, oben wie eine Tunica. Dazu ein grellbunter Schal, wie er den Marktfrauen stehen mag, kurzum, er sah aus wie ein geleckter Parvenu! So unrömisch es auch ist, ich nehme an, dass es seinen Freunden und Beratern Burrus und Seneca gefällt. Während der Cäsar im Circus trainiert oder im Theater auftritt, können sie ohne Störung regieren. Oh tempora, oh mores! « Ciceros Ausruf schien ihr ein passendes Schlusswort zu sein, denn sie lehnte sich erschöpft zurück.
Nach einer kurzen Pause ergriff Valerius das Wort. » Bene , was sagt Seneca wirklich zu dieser Entwicklung? Immerhin dürfte sein Wort bei Nero viel gelten. Hat er sich tatsächlich gegen die Augusta gestellt?«
»Das wird deine erste Aufgabe sein, das sollst du herausfinden, Valerius«, antwortete Niger schnell. »Mit der Augusta spricht er kaum noch, mit mir hat er noch nie gesprochen. Er hält mich offenbar für einen lebenden Vertreter der Unterwelt, für Charons ersten Gesellen.«
Valerius lachte. »Vielleicht solltest du dir einmal ein freundlicheres Kleidungsstück zulegen.«
»Wir wissen«, fuhr Niger ungerührt fort, »dass du Seneca gut kennst und er dich schätzt. Also wirst du ihm heute Abend einen überraschenden Besuch abstatten, so zur elften Stunde. Wir wissen, dass er zu Hause ist, und er wird dich sicher freundlich empfangen. Wenn du Glück hast, kommst du rechtzeitig zur Cena, seine
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