Agrippina - Kaiserin von Rom
interessiert zusehen. Jetzt hat sich die Priesterin über das Tier gebeugt und durchforscht seine Eingeweide mit einem langen schwarzen Stab.
»Was ... was tut sie?« Dirana mag gar nicht hinblicken.
»Meine süße kleine Närrin!«
Valerius sagt es mit einem liebevollen Lächeln. Frauen sind an solche Opferriten eben nicht gewöhnt, deshalb stellen sie sich so an.
»Sie wird die Zukunft aus den Eingeweiden deuten, so wie es unsere Opferschauer auch tun.«
Wieder hebt die Priesterin die Hände, und erneut kehrt augenblicklich totale Stille ein. Eine kräftige junge Stimme erfüllt das schweigende Tal: »Die Zeit ist gekommen, wo der Tag die Nacht besiegt, die Sonne den Mond, das Licht die Finsternis. Oh Rosmerta, glückbringende Mutter der Erde, fülle alle Äcker, Wiesen und Felder mit deiner fruchtbaren Gnade. Leere deine Füllhörner des Segens über allen aus, die im Gebet hier vereint sind. Du großer Teutates, sammle die Seelen all derer, die in den letzten Monden gegangen sind, und führe sie zur großen himmlischen Stätte. Und rühre mit deinem Odem all jene an, die Handel treiben oder ihre Felder versorgen, auf dass ihr Vorhaben gelinge. Und du, Allmächtiger,der du Taranis genannt wirst, zeig uns mit Blitz und Donner deine Macht. Spende mit dem Rad der Sonne Segen über alles Land, und bewahre uns alle vor Verheerung und Krieg. Gib denen, die im Augenblick die Macht in unseren Landen ausüben, die Kraft, den Frieden zu bewahren, und uns, die wir hier vor deinem Antlitz stehen, mit Gerechtigkeit zu begegnen. Wir wissen, dass du ihre Macht mit Sorgfalt beobachtest und sie ihnen nehmen wirst, wenn sie sie missbrauchen.«
»Was sagt sie da?«, flüstert Gaius empört.
»Pscht! Lasst uns weiterhören!«
Und schon setzt die Priesterin ihre kraftvolle Ansprache fort. Längst ist der Ton fester und bestimmender geworden.
»So höret denn, Männer und Frauen der Kelten, was mir der heilige Stein durch unser Opfer mitgeteilt hat: Die Zeiten sind wie die Winde. Sie kommen und gehen und wehen aus verschiedenen Richtungen. So wie nicht immer war, was ist, so wird nicht immer sein, was war. Neue Winde werden kommen, neue Zeiten, neue Mächte! So wie sich die Kronen unserer mächtigen Eichen zeitweilig dem stürmischen Wind beugen, so beugen sich unsere Völker dem Eroberer aus fernem Land. Doch wie der Bär am Pfeil nicht stirbt, wie auch die Eiche unter der Last des Sturmes nicht bricht, so brechen auch wir nicht. Seid gewiss, ihr tapferen Männer und Frauen, dass die Zeit kommen wird, zu der sich der kalte Wind des Eisens legt und der milde Hauch des Friedens Einzug hält in unsere Gaue. So haben es die Götter gewollt, und so künden sie es euch durch meinen Mund.«
Sie macht eine kurze Pause und nimmt mit Befriedigung die Aufmerksamkeit wahr, die die Zuhörer ihr schenken. Dann fährt sie fort, indem sie mit ihren Händen auf den vor ihr liegenden Stein weist:
»Füget euch also dem Willen der Götter. Beugt euch dem Wind, solange er weht, und wartet in Ruhe, bis er sich gelegt hat!«
»Was meint sie damit?« Aus Diranas Worten klingt Besorgnis.
»Ich weiß nicht«, sagt Valerius stirnrunzelnd, »aber gefallen will mir das nicht. Fast klingt es nach Aufruhr. Wenn das der Kaiser hören würde ...«
Schon fährt die Priesterin fort: »Es wird aber kommen der Tag, wo das Festgewand mit dem Kleid des Kriegers vertauscht wird, die Flöte mit dem Schwert, die Trommel mit der Axt.«
Sie beugt sich herunter und nimmt eine Hand voll Erde auf.
»Schmeckt diese Erde, eure Erde.«
Dann wirft sie die Erde in die Luft.
»Spürt diese Luft, eure Luft!«
Sie weist auf die mächtigen Linden und Eichen, die im Tal stehen.
»Seht diese Bäume, eure Bäume!«
Dann ergreift sie eines der Gefäße und besprengt mit dem Wasser die Umstehenden.
»Fühlt das heilige Wasser, euer Wasser!«
Nach einer kunstvollen Pause, in der sie ihre Blicke über das ganze Tal schweifen lässt, ruft sie mit erhobener Stimme aus: »Erde, Luft, Baum und Wasser, das alles haben uns die Götter gegeben, auf dass wir es pflegen und hegen. Es stellt Leben, Nahrung und Raum für uns dar, für uns und für die, die nach uns kommen, unsere Kinder und Kindeskinder. Vergesst also nie, dass dies alles euer ist. Heute aber ist der Tag der Freude und des Feierns. Unsere Götter wollen es so. Also tut es!«
Und im gleichen Augenblick noch, als habe man Kommando dazu gegeben, fangen die Luren, die gebogenen Blasinstrumente, mit ihrer Musik an,
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