Agrippina - Kaiserin von Rom
Dann erfüllte seine sonore, fremdartige Stimme den kleinen Platz und schuf inmitten der geräuschvollen, lärmenden Umgebung eine Oase kurzfristiger Stille.
»So hört denn, ihr Leute aus der schönen Stadt der Ubier am mächtigen Strom des Rhenus, was sich vor langer Zeit im fernen Kleinasien zugetragen hat. Die Götter sind meine Zeugen, dass es sich so und nicht anders zugetragen hat. Meine Lippen sollen für immer versiegelt sein und meine Zunge möge verdorren, wenn ich etwas anderes als die reine Wahrheit erzähle.«
Er machte eine kurze Pause und leckte sich über die Lippen. Dann fuhr er fort: »Zu Ephesus, jener ionischen Stadt im fernen Kleinasien, wo der berühmte Tempel der Diana steht, ereignete es sich einst, dass eine Frau, die wegen ihrer Keuschheit und Sittsamkeit nicht weniger gerühmt wurde als wegen ihrer makellosen Schönheit, ihren Gemahl zu Grabe tragen musste. Nicht nur mit fliegenden Haaren und entblößter Brust trauerte sie nach Sitte desLandes, nein, sie folgte dem Verblichenen auch in dessen Gruft und beweinte ihn darin ohne Unterlass bei Tag und bei Nacht. In der kalten Katakombe wollte sie hungern und dürsten, bis sie der Tod dem Gatten wieder vereint. Weder Verwandte noch eine Abordnung des städtischen Magistrats mochten sie von diesem Vorhaben abbringen. Fünf Tage schon harrte sie aus, und der Tod kreiste mit schwarzen Schwingen um die dunkle Gruft.«
Geschickt hatte der Nugator seine Stimme zu düsterem Tone gesenkt und vernahm mit Befriedigung die Achs und Ohs seiner ergriffenen Zuhörerschaft. Auch Dirana befand sich ganz im Banne der Erzählung, und selbst der kleine Titus, der sonst solche Vorgänge mit munterem Plappern zu begleiten pflegte, hing an den Lippen des Mannes. Sklaven, die an der Ecke vorbeigehastet waren, hatten ihre Lasten abgestellt und den Kreis vergrößert, ja ein vornehmer Bürger hatte gar seine Sänfte abstellen lassen und lauschte hinter dem Vorhang den düsteren Worten.
»Alle Welt war von dieser Trauer gerührt, und die Stadt erstickte in Tränen. Nur eine treu ergebene Dienerin leistete der Herrin Gesellschaft, sie fastete und trauerte mit ihr. Nun aber geschah es, dass der Statthalter jener Provinz in der Nähe der traurigen Gruft einige Räuber ans Kreuz schlagen ließ und die Bewachung der Hinrichtungsstätte einem jungen Soldaten übertrug. So sollte verhindert werden, dass die Leiche eines der Schandbuben gestohlen würde. In der Nacht nun sah jener Soldat ein Licht in der Gruft und hörte ein Wimmern und Klagen, dass es ihn erbarmte. Leise schlich er sich dorthin und gewahrte im kargen Licht einer Laterne das schöne Weib. Zuerst hielt er es für ein Gespenst«, der Erzähler riss die Augen weit auf und alle Hörer taten es ihm gleich, »als er aber den Toten sah, wurde ihm klar, dass hier ein Weib an der Leiche ihres Mannes klagend saß. Er holte seine karge Ration aus dem Beutel und bot der Frau davon an. Mit allen Worten, die er fand, redete er dem Weibe zu und suchte ihr Trost zu spenden. Sie aber, die Treue, ließ sich nicht trösten. Sie raufte ihre Haare, schlug sich auf die Brust und klammerte sich an den kalten Gatten. Der Soldat aber gab so schnell nicht auf. Immer wieder redete er auf das Weib ein und brachte die schönsten Speisen, auf dass sie etwas zu sich nehme. Die Dienerin ist es, deren Herz er zuerst erreichte.«
Von ferne konnte man schon die Posaunen und Schellen der nahenden Isis-Prozession hören, aber keiner verließ den Platz. Nur kurz schien Dirana auf das ferne Geräusch zu lauschen, dann wandte sie eilends ihre Aufmerksamkeit wieder dem Erzähler zu. Der fuhr mit erhobener Stimme fort, wie um das konkurrierende Geräusch zu übertönen.
»Betört vom Aroma des Weines, griff die Dienerin zum Becher und nahm wenig später auch von der dargereichten Speise. Nun waren es zwei, die auf die klagende Frau einredeten – und endlich gelang es. Auch die Herrin tat wie ihre Dienerin und sättigte sich wieder an Speise und Trank. Damit aber gab sich der wackre Soldat nun nicht zufrieden. Mit derselben Hartnäckigkeit, mit der er der Frau zurück ins Leben geholfen hatte, attackierte er nun ihre Sittsamkeit, und nach kurzem war er auch hier erfolgreich. Also lagen sie nunmehr jede Nacht zusammen, freilich nicht, ohne die Türen der Gruft zu schließen, damit jeder, der zu dem Grabmal komme, glaube, die Keuscheste der Gattinnen habe ihr Werk vollendet und sei mit dem toten Gatten vereint.«
Einen Augenblick hielt der
Weitere Kostenlose Bücher