Ahnentanz
entdeckte sie nur wenige Schritte entfernt einen anderen Sarkophag, dem sie nie viel Beachtung geschenkt hatte. Die Inschrift auf dem Stein war alt, die Zeit und die Flechten hatten sie fast unleserlich gemacht.
Ohne Rücksicht auf ihre Fingernägel kratzte sie an der alten Inschrift herum, bis sie schließlich lesbar war, wenn auch mit Mühe. Das Begräbnis hatte 1887 stattgefunden. Die Inschrift gab den Namen Henry LeBlanc preis und darunter: „Retter des Hauses.“
Sie zögerte und ließ sich auf den Sarkophag sinken. Der Wind frischte plötzlich auf, doch sie hatte keine Angst. „Entweder ich habe den Verstand verloren, oder du spukst in diesem Haus und in der Stadt herum, weil du weißt, dass hier wieder ein Mann umgeht, der Menschen tötet“, sagte sie leise. „Du wolltest damals, dass alle die Wahrheit erfahren – darum hast du Fionas Tagebuch weitergeschrieben –, und nun möchtest du wieder, dass wir die Wahrheit erfahren, nicht wahr? Nun, wir kennen sie jetzt, Henry. Wir wissen, dass hier ein Mann Frauen umbringt, und wir werden ihn fassen. Das verspreche ich.“
Sie stand auf und registrierte überrascht, dass sie nicht die erwartete Erleichterung und Entspannung verspürte. Die Luft wurde kalt, als wollte sie sie warnen, dass nicht alles gelöst war.
Dann überfiel sie sie. Eine markerschütternde Furcht, wie die Furcht, die sie in ihrem Traum überkommen hatte. Hier draußen hielt sich etwas Böses, etwas Teuflisches auf.
Sie wirbelte herum, halb überzeugt, dass eine böse Macht gerade in diesem Moment jede ihrer Bewegungen verfolgte.
Dass sie zusammengekauert wartete. Bereit, zuzuschlagen.
„Kendall?“
Sie zuckte zusammen und wirbelte erneut herum. Aidan kam auf sie zu. Die Furcht und das Gefühl, beobachtet zu werden, verblassten.
Er blickte sie fragend an, doch sie rang sich mit pochendem Herzen ein Lächeln ab.
„Ich wollte Henrys Grab finden, und es ist mir gelungen“, sagte sie.
Er nickte und streckte die Hand nach ihr aus.
Sie nahm sie und fragte: „Aidan, warst du hier und hast die Gräber aufgebuddelt?“
„Ja.“
„Warum?“
„Ich habe nach Knochen gesucht.“
„Aidan, das ist ein Friedhof. Natürlich gibt es hier Knochen.“
Er sah sie an und strich ihr lächelnd eine Haarsträhne aus der Stirn. „Tatsächlich habe ich nach durcheinandergebrachten Knochen gesucht oder einem verdächtigen Fehlen von Knochen.“
„Oh.“
Er hielt inne und sah sich um. Sie bemerkte, dass sie eben auf die gleiche Weise um sich geschaut haben musste. Als ob da etwas war, das man nicht sah.
„Lass uns gehen. Alle wollen zu Mittag essen. Hungrig?“, fragte er.
„Und wie.“
Hand in Hand gingen sie fort, doch als sie sich umsah, verdunkelte eine Wolke die Sonne, sodass der Friedhof im Schatten lag.
Und in diesem Schatten hätte sie schwören können, Henry zu sehen. Doch er stand nicht bei seinem eigenen Grab und auch nicht bei Fionas. Er stand vor dem Familienmausoleum der Flynns und deutete auf die Tür.
Dann zog die Wolke vorüber, und er war fort.
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18. KAPITEL
Der Rest des Sonntags verlief ereignislos.
Sie gingen alle gemeinsam zum Lunch in ein Restaurant, das in einem alten Haus eingerichtet worden war. Als Aidan sich entspannt in seinem Stuhl zurücklehnte, dachte er, wie schön es wäre, wenn er seinem eigenen Haus doch auch trauen könnte.
Ein lächerlicher Gedanke, der ihm da ungebeten gekommen war. Er schob ihn rasch beiseite und wandte sich wieder dem Gespräch zu. Mit Vinnie und Mason zusammen hatte er die Gelegenheit, eine ganz andere Seite von Kendall kennenzulernen.
„Ich finde es immer noch schade, dass Kendall nicht an ihrem ursprünglichen Plan festgehalten hat“, sagte Vinnie.
„Welchem Plan?“, fragte Aidan.
Sie errötete leicht. „Ich wollte ein kleines Theater eröffnen.
Einen Ort, wo Erwachsene und Kinder Schauspielunterricht nehmen und spielen können, wo neue Stücke und neue Schauspieler eine Chance bekommen, wo Leute Bühnentechnik und Bühnenbildnerei lernen …“ Sie zuckte die Achseln. „Ich habe es niemals genauer ausgearbeitet.“
„Aber es war ein großer Traum“, sagte Vinnie.
Sie zuckte erneut die Achseln. „Ich habe kein geeignetes Gebäude gefunden. Ich hatte eine Menge Freunde, die mir geholfen hätten, es herzurichten. Aber ich konnte mir die astronomischen Mieten nicht leisten. Als dann der Laden auftauchte, dachte ich, dass ich es erst
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