Ahnentanz
vorgewarnt hatten, dass die Polizei sicherlich irgendwann mit ihr sprechen wollte.
Und, dachte sie trocken, nicht einmal Aidan Flynn schien zu glauben, dass sie für die Existenz des Knochens verantwortlich war.
Ein menschlicher Oberschenkelknochen.
Ein Schauer überlief sie.
Sie versuchte sich zu überzeugen, dass nichts wirklich Schockierendes daran war. Auch nach so langer Zeit nach dem Wirbelsturm tauchten noch immer furchtbare Dinge auf. Bei diesem Knochen handelte es sich zweifellos um einen weiteren traurigen Überrest, der aus einem Grab gespült worden war. Sie durfte ihre Angst und ihr Unbehagen nicht zulassen.
Meistens schaffte sie den Weg von der Flynn-Plantage bis ins French Quarter innerhalb von dreißig Minuten, doch an diesem Tag war der Verkehr so stark, dass sie erst um vier Uhr wieder vor ihrem Laden stand. Schuldbewusst trat sie ein, denn sie hatte Vinnie gesagt, dass sie gegen drei zurück wäre. Seine Band spielte an diesem Abend in der Bourbon Street und musste um fünf Uhr mit dem Aufbau beginnen.
Sie seufzte erleichtert auf, als er sie mit einem Hallo begrüßte und dabei keineswegs verärgert klang.
Er stand hinter dem Tresen, an dem sie Kaffee und Tee für die Kunden kochten und dazu Gebäck von dem Bäcker in der Straße nebenan anboten. Gedankenversunken zwirbelte er eine Locke seines langen dunklen Haares – unverzichtbar für einen Gitarristen und Sänger – und las Zeitung. Als er zu ihr aufsah, lächelte er sie neugierig an.
„Dann bist du also nicht rein- und rausgekommen, bevor die lange verschollenen Erben auftauchten, hm?“, fragte er.
„Nein.“
„Einzelheiten, bitte.“
Sie zuckte die Achseln. „Sie sind zu dritt.“
„Richtig, als ob das nicht die ganze Stadt wüsste. Ich kenne bereits zwei von ihnen, erinnerst du dich? Erzähl mir also was Neues.“
„Ich weiß nicht, was ich dir erzählen soll.“
„Wie fandest du sie?“
„Die zwei, die du kennst, sind nett – der dritte ist ein Mistkerl.“
„Der Jüngste, Zach, hat vielen Musikern sehr geholfen. Ihm gehören ein paar Studios. Kleine Anlagen, aber manchmal stellt er sie neuen Talenten kostenlos zur Verfügung, sodass sie ihre Musik herausbringen und ein bisschen verdienen können.“
„Da weißt du mehr als ich“, erwiderte sie.
„Natürlich tue ich das“, sagte Vinnie. „Anders als gewisse andere Menschen habe ich ein Leben. Ich gehe tatsächlich raus und spreche mit Menschen.“
„Schön für dich“, entgegnete sie trocken.
„Dann ist der älteste Bruder das Arschloch?“
„Er ist …“
„Ein Arschloch“, wiederholte Vinnie.
„Hey, sie kamen, ich bin gegangen, es ist vorbei. Es spielt keine Rolle mehr.“
Sie tat so, als sei sie damit beschäftigt, ein paar handgemalte Grußkarten in der Auslage zu ordnen.
„Und was stimmt dann nicht?“, wollte er wissen, um seine Frage gleich selbst zu beantworten. „Was nicht stimmt? Die Plantage hätte an dich gehen sollen.“
„Ich bin nicht bei Amelia geblieben, damit sie mir das Haus hinterlässt“, sagte sie fest. „Um ehrlich zu sein, nahm ich an, dass es um die Steuerrückstände an den Staat geht. Und selbst mir ist klar, dass man viel Geld hineinstecken muss, damit es überhaupt stehen bleibt.“
„Vielleicht kannst du es kaufen“, schlug Vinnie vor. „Nachdemes instand gesetzt wurde.“
„Oh ja. Bestimmt.“ Sie starrte auf die Karten. „In ganz New Orleans gibt es nicht genug Tarotkarten zu lesen, damit ich genügend Geld verdiene, um das Haus zu kaufen.“ Sie hielt inne und sah Vinnie an. „Ich besäße nicht einmal diesen Laden, wenn es Amelia nicht gegeben hätte. Auch wenn ich ihr alles zurückgezahlt habe, jeden Penny.“
„Ich weiß. Und du hast noch viel mehr für sie getan.“
„Sie war sozusagen meine Adoptivgroßmutter“, erinnerte ihn Kendall.
„Wahrscheinlich liegt es an der Sache mit seiner Frau“, sagte Vinnie. „Ich meine den Bruder.“
Sie brauchte einen Moment, um umzuschalten. „Du meinst, der älteste Bruder ist wegen seiner Frau so ein Arschloch?“, fragte sie. „Was ist mit ihr, ist sie eine Furie oder so was?“
Vinnie blickte sie ernst an und schüttelte den Kopf. „Sie ist tot.“
„Oh, das tut mir leid.“ Sie schwieg einen Moment. „Woher um Himmels willen weißt du das alles? Die Anwälte sagten mir, dass sie gemeinsam ein Geschäft betreiben, und heute Morgen rief einer an, dass sie die Plantage heute übernehmen würden. Und ich habe den mittleren Bruder im Radio
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