Ahnentanz
Kendall, wie immer, wenn sie hier war. Sicher, die Pracht verfiel allmählich, doch hinter der abblätternden Farbe und dem faulenden Holz war noch immer die Eleganz spürbar. Im Ballsaal gab es bodentiefe Fenster. Das Wohnzimmer war noch immer möbliert mit einem Zweisitzersofa von Duncan Phyfe und Gobelinstühlen aus dem neunzehnten Jahrhundert. Sogar ein großer Flügel stand darin – der allerdings dringend gestimmt werden musste, wie Kendall die Brüder warnte. Außerdem gab es einige elegante Beistelltische, einen Sekretär und noch mehrere Möbelstücke. Sie hielten inne, um die Wand mit den Familienporträts in Augenschein zu nehmen. Einige davon waren Kunstwerke, andere wiederum weniger ansehnliche Zeugnisse der Vergangenheit.
„Amelia?“, fragte Aidan, der ein Bild am äußersten rechten Rand betrachtete.
Amelia war nicht als junges, schönes Mädchen porträtiert worden. Sie hatte das Bild erst vor ein paar Jahren machen lassen, und es zeigte sie so, wie Kendall sie kannte. Mit einer Kappe schneeweißen Haares, feinen, wenn auch gealterten Gesichtszügen, klaren Augen und dem freundlichen Lächeln, dassie immer im Gesicht trug.
„Sie wirkt sehr nett“, sagte Zachary.
„Das war sie“, erwiderte Kendall.
Im oberen Stockwerk schlug Aidan gegen die Wände und stampfte prüfend auf den Boden. Er warf einen flüchtigen Blick auf den mit Truhen vollgepackten Dachboden.
„Familiengeschichte“, sagte Zach.
Doch selbst das konnte Aidan nicht mehr als ein zurückhaltendes „Hmmm“ entlocken, als sie wieder nach unten gingen.
Trotz ihres geringen Alters hatte Kendall die Küche immer sehr charmant gefunden mit ihrer 50er-Jahre-Behaglichkeit.
Die drei Brüder musterten den Raum skeptisch und teilten ihre Begeisterung offensichtlich nicht.
„Sie ist wunderbar. Sehen Sie, dort ist ein Speisenaufzug“, sagte sie und zeigte ihnen den kleinen, durch einen Flaschenzug betriebenen Aufzug, der einst das warme Essen nach oben und schmutzige Teller und Wäsche nach unten transportiert hatte – und gelegentlich sicher auch mal das ein oder andere Kind.
Schließlich gingen sie nach draußen. Sie zeigte ihnen das ursprüngliche Küchengebäude, das nun als Verwalterhäuschen diente, falls es je wieder einen Verwalter geben sollte, und das Räucherhaus, das noch immer nach Rauch roch. Sogar die Ställe, die sich von allen Gebäuden im besten Zustand befanden, rochen noch nach Heu und Pferden, obwohl Amelia seit mehr als zwanzig Jahren kein Pferd mehr besessen hatte. Sie gingen an der Reihe alter Sklavenquartiere entlang, die alle zwei Zimmer hatten und zumeist dringend einer Reparatur bedurften. Als sie das letzte Gebäude in der Reihe erreichten, sagte Aidan: „Jemand wohnt hier draußen.“
„Wirklich?“, fragte sie überrascht. Er sah sie an, und sie begriff, dass er ihre Reaktion prüfte. Sie merkte, dass er ihr glaubte, doch sie war empört, dass er überhaupt Zweifel gehabt hatte.
„Woher willst du das wissen?“, fragte Zach stirnrunzelnd.
Aidan trat gegen einen kleinen Müllhaufen. „Die Suppendosen“, sagte er trocken.
„Toll. Und wir sind Detektive“, murmelte Jeremy betreten. „Wir hätten sie noch entdeckt“, fügte er hinzu.
„Suppendosen und Bierflaschen.“ Aidan sah Kendall an. „Sie wussten nichts davon.“
Es war eine Feststellung, keine Frage.
Sie schüttelte den Kopf. „Aber … Amelia sagte, dass sie Lichter sehe. Vielleicht hat sie sich die Dinge doch nicht eingebildet.“
„Und Sie sind dem nie nachgegangen?“
„Hey“, wehrte sie sich. „Ich kam hier raus, um ihr Beistand zu leisten, wenn sie allein war und krank und voller Angst. Ich wurde nicht vom Staat bezahlt. Sie … sie sah gegen Ende viele Dinge.“
„Nun, wenn sie Lichter sah, hatte sie jedenfalls recht“, sagte Aidan und trat wieder gegen den Stapel.
Dann erstarrte er mit angespanntem Gesicht. Er beugte sich hinunter und griff nach etwas in dem Müllhaufen.
„Aidan, was zum Teufel …?“, fragte Jeremy, als Aidan etwas aus dem Haufen zog.
„Was ist das?“, fragte Kendall neugierig.
Er hob es hoch, und ihr drehte sich der Magen um, während sie dachte, dass es nicht sein konnte, wonach es aussah.
Doch das war es.
„Ein Oberschenkelknochen“, sagte er. „Ein menschlicher Oberschenkelknochen.“
Dieses E-Book wurde von der "Osiandersche Buchhandlung GmbH" generiert. ©2012
3. KAPITEL
Immerhin musste ich nicht mit ihnen auf die Polizei warten, dachte Kendall, auch wenn sie sie
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