Ahnentanz
Karten lesen zu lassen. „Nur zum Spaß“, sagte sie immer, und es war auch Spaß. Ihre Sitzungen endeten immer damit, dass sie und Kendall über die verschiedenen Auslegungen der Tarotkarten sprachen.
Miss Ady sah sie trotzig an. „Steht in den Teeblättern, dass ich geheilt werde?“, fragte sie. „Falls nicht, lasse ich den Arzt nämlich nicht an mir herumstochern und mir Nadeln in den Arm stechen. Leute wie ich, wir hatten ein gutes und gesegnetes Leben. Wir haben keine Angst vor dem Tod. Wir wollen nur zu Hause bleiben.“
„Sie werden nicht sterben, nicht wenn Sie zum Arzt gehen“, insistierte Kendall.
„Nun gut, dann ja.“
„Kommen Sie. Wir vereinbaren gleich einen Termin für
Sie“, sagte Kendall.
Sie gingen wieder in den vorderen Teil des Ladens, wo Mason einem Kunden einen besonders hübschen Kristall zeigte. Überrascht schaute er auf, als Kendall und Ady direkt auf dasTelefon zusteuerten. Während sie den Arzt anriefen und einen Termin vereinbarten, kassierte Mason. Der Herr, der den Kristall gekauft hatte, hielt Ady die Tür auf, als sie ging.
„Was war denn mit euch los?“, wollte Mason wissen.
„Ich glaube, sie hat Krebs“, sagte Kendall.
„Was?“ Mason sah sie an, als ob sie den Verstand verloren hätte. „Seit wann glaubst du an deine eigene PR? Warum solltest du eine alte Dame so verängstigen?“
Was zum Teufel war hier eigentlich passiert?, fragte sich Kendall. Sie wollte die ganze Sache abschütteln, wollte sich einreden, dass sie sich nur Sorgen um Ady machte und es nicht schaden konnte, sie zu einem Arztbesuch zu überreden, um sich durchchecken zu lassen. Doch sosehr sie sich selbst zu überzeugen versuchte, sie fühlte sich doch unbehaglich. Irgendwas an dieser Sache flößte ihr wirklich Angst ein.
Ebenso viel Angst wie bei den letzten zwei Malen. Doch da waren es Tarotkarten gewesen, und es passierte leicht, dass sie müde wurde, während sie sich auf die Karten und ihre Kundin konzentrierte, und dann Dinge sah, die nicht da waren.
„Ich … vermutlich liegt es daran, dass ich so viel Zeit mit Amelia verbracht habe“, erwiderte sie rasch, weil Mason sie eindringlich musterte.
„Dann hat jetzt jeder ältere Kunde Krebs?“
„Nein, natürlich nicht. Vielleicht war es nur ein Instinkt.
Oder vielleicht irre ich mich. Du weißt, dass ich niemals etwas tun würde, das ihr schadet. Doch es schadet ihr nicht, zum Arzt zu gehen, weshalb ich am Donnerstag übrigens ein bisschen später komme. Ich begleite sie zu dem Termin.“ Kendall trat hinter den Tresen und fügte dann hinzu: „Falls irgendjemand anders heute noch eine Sitzung haben möchte, übernimmst du das, okay?“
Mason sah sie fragend an und zuckte dann die Achseln. „Sicher. Wenn du willst.“
„Ja, das will ich. Danke.“Als er auf der Plantage ankam, stellte Aidan fest, dass der angeheuerte Bauingenieur schon früher gekommen war. Glücklicherweise war auch Jeremy früh dran gewesen. Gemeinsam begutachteten sie bereits das Haus. Aidan schüttelte dem Mann die Hand, sah, dass Jeremy die Sache unter Kontrolle hatte, und überließ die beiden sich selbst.
Aidan ging wieder zur Eingangstür hinaus und starrte zum Haus hoch, wobei er selbst nicht genau wusste, wonach er suchte. Gestern war er sicher gewesen, auf dem Balkon eine Frau in Weiß gesehen zu haben. War es Kendall gewesen? So musste es sein. Welche andere Möglichkeit gab es denn?
Doch als er Kendall an der Tür begegnet war, hatte sie nicht wie die Frau ausgesehen, die er erblickt hatte. Diese Frau war blasser gewesen und ganz in Weiß gekleidet. Die Frau in Weiß. Offenbar hatte er in seinem Leben zu viele Gespenstergeschichten gelesen. Es hatte gar keine Frau in Weiß gegeben. Vermutlich hatte ihn das Licht getäuscht, verursacht durch das merkwürdige Wetter mit dem Wind und den trüben dunklen Wolken, denen Sonne und ein blauer Himmel folgte.
Er schloss ein Auge und schaute das Haus nahezu trotzig an. Was ihn am meisten beunruhigte, war nicht die Frau, die er gesehen hatte und die wirklich eine Sinnestäuschung gewesen sein mochte. Was ihn am meisten beunruhigte, war sein Bauchgefühl. Etwas Verstörendes umgab den Ort, etwas Düsteres und Mysteriöses.
Er gab sich innerlich einen Ruck. Häuser hatten keine Persönlichkeit. Sie bestanden aus Holz und Ton und Stein, aus Nägeln und Gips.
Er ging zurück zum Haus, aber nicht hinein. Stattdessen ertappte er sich dabei, wie er um das Haus herum und zu der letzten Sklavenhütte ging, wo
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