Ahnentanz
war weiß gewesen, die andere war schwarz, und beide hatten sich glücklich geschätzt, die andere zur Freundin zu haben.
Tatsächlich war Ady nicht ganz schwarz. Ihre Haut hatteeinen tiefdunklen Kupferton, und ihre Augen glänzten bernsteinfarben. Sie erzählte gerne, dass sie Weiße verstünde, weil sie weißes Blut in sich hätte. Und sie sagte Amelia und Kendall immer, dass sie ein bisschen schwarzes Blut hätten haben sollen, weil es sie stärker gemacht hätte. „Nichts ist so stark wie eine schwarze Frau, Liebes. Nicht mal der stärkste Kerl da draußen“, sagte sie gern.
„Ich habe die Flynns kennengelernt. Sie wirken ganz anständig“, sagte Kendall jetzt.
„Hmm. Welche anständigen Jungen würden ihre einsame Großtante nicht besuchen?“
„Sie wussten nichts von ihrer Existenz“, erklärte Kendall. „Na, das ist aber merkwürdig.“ Ady blieb argwöhnisch.
„Nun lassen Sie uns mal sehen, was die Teeblätter sagen. Vielleicht prophezeien sie mir, dass ich in der Lotterie gewinne. Natürlich spiele ich nicht in der Lotterie. Aber möglicherweise tue ich es dann. Was meinen Sie? Sollte ich das tun?“
Kendall lachte. „Nun, Sie wissen doch, dass ich solche Ratschläge nicht gebe, Miss Ady.“ Obwohl sie Witwe war, wurde Ady immer Miss Ady genannt.
„Und Sie wissen, dass ich nicht spiele, mein Kind“, lachte Ady. „Kommen Sie, sagen Sie mir, was in meinen Teeblättern steht.“
Kendall drehte die Tasse in der Hand und musterte den Grund. Die Blätter schienen sich zu einem Strudel zu formen. So hatten sie sich offenbar in der Tasse abgesetzt, sagte sie sich.
Sie starrte sie an. Irgendwie schien der Raum um sie herum dabei zu … zu verschwimmen. Natürlich tut er das, schalt sie sich. Schließlich starrte sie so angestrengt in den Tassenboden, dass ihr Blick trüb wurde.
Doch sie konnte die Augen nicht abwenden. Ihre Sicht blieb verschwommen, und dann war ihr plötzlich, als ob sie ein Bild auf dem Tassenboden sah. Nein, sie sah tatsächlich ein Bild. Eine ganze Szenerie. Sie war wieder auf der Plantage, am Todestagvon Amelia. Und da lag Amelia, zerbrechlich und im Koma, in ihrem Bett. Die Krankenschwester hatte gesagt, dass sie das Bewusstsein vermutlich nicht wiedererlangen würde.
Doch das tat sie. Sie setzte sich auf, und Kendall sprang zu ihr, um ihre Hand zu nehmen. Amelia sah sie an, sagte ihr, dass sie sie liebe … und dann sah sie zum Fußende des Bettes, lächelte und verkündete, dass sie bereit sei. Sie streckte die Hand aus und …
In der Teetasse, in dem verschwommenen Bild vor ihren Augen, sah Kendall etwas. Sah jemanden. Eine in Licht gehüllte Gestalt streckte die Hand nach Amelia aus.
Kendall ließ fast die Tasse fallen, als sie eine Stimme hörte – Amelias Stimme –, die ihr ins Ohr flüsterte.
Hilf Ady. Bitte hilf ihr.
Ady sprang plötzlich auf, und die Bewegung brach den Bann. Nein, brach die Erinnerung , mahnte Kendall sich zur Vernunft.
„Miss Ady, was ist los?“
„Ich werde nicht zum Arzt gehen“, sagte Ady.
„Was?“
„Sie sagten gerade: ‚Gehen Sie zum Arzt, Ady. Gehen Sie sofort, und man wird es aufhalten können.‘“
„Nein, ich … nein. Ich habe nichts gesagt“, protestierte Kendall. Sie griff nach Adys Hand.
Als sie sie nahm, hatte sie das Gefühl, als ob ein Blitz sie durchfuhr. Es war Wissen. Eine tiefe, innere Gewissheit. Ady hatte Krebs.
Die ältere Frau starrte sie entsetzt an, und Kendall selbst zitterte innerlich. Sie hatte keine Erinnerung daran, dass sie etwas gesagt hatte. Und die Art, wie Ady sie anstarrte, machte ihr Angst.
Doch sie wusste es.
„Miss Ady, ich bringe Sie selbst hin“, erbot sie sich. „Sie müssen sofort zum Arzt.“
„Ich mag den Arzt nicht. Er sticht und stochert an mir herum.“
„Miss Ady. Sie sind krank, doch die Krankheit kann geheilt werden, wenn wir Ihnen schnell Hilfe besorgen.“
Miss Ady sah sich um und presste ihre kleine Handtasche an ihre Brust. Dann blickte sie Kendall stirnrunzelnd an. „Wird Luther junior das Footballspiel am Samstagabend gewinnen?“
„Ich weiß es nicht“, erwiderte Kendall. „Aber ich weiß, dass Sie zum Arzt müssen. Ich begleite Sie, versprochen. Aber Sie müssen gehen.“
„Vielleicht.“
„Ich rufe sonst Ihre Tochter Rebecca an“, drohte Kendall. Adys älteste Tochter war zweiundfünfzig und arbeitete als Laborantin in der Gerichtsmedizin. Sie war eine bodenständige Frau, die ihre Mutter aufrichtig liebte. Manchmal kam sie selbst, um sich die
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