Ahoi Polaroid
am Ende eines jeden Jahres im Berliner Hauptbahnhof herumsteht. Der Weihnachtsbaum, der von oben bis unten von einem Großjuwelier zu Werbezwecken mit Diamanten behängt ist, vor denen die Besucher mit offenen Mündern stehen, als funkelte ihnen der Baumschmuck den Verstand auf Nimmerwiedersehen aus dem Hirn. Soll heißen: Die christliche Botschaft zum Anschauen. Bedeutet: Für wenige hängt der Baum voll, für die meisten bleibt er darunter leer. Oder: Nur gucken, nicht anfassen! Meint: Kapitalisten sind auch Christen.
»Jetzt hab’n wir det och jesehen«, gab sich Bärli etwas pragmatischer. Er umarmte seine Frau, die jetzt Tränen in den Augen hatte. Vielleicht waren es aber auch Regentropfen. »Det hat sich doch wirklich jelohnt«, schniefte sie. So wird Realität umgedeutet, dachte Plotek. Nur weil die Langweile, die einen bis ans Ende der Welt verfolgt, anders kaum erträglich wäre. Er steckte sich eine Zigarette an, in der sich ein paar Krümel vom Schwarzen Afghanen befanden. Er inhalierte. Schon schien sich die statische, langweilige Weltkugel zu drehen.
Begleitet von einer Gewehrsalve. Irgendwoher ballerten Schüsse durch den Wind. Bärli und Mausi Weber zogen die Köpfe ein und hielten die Arme schützend darüber. Herlinde Vogler-Huth und Ruedi Eschenbach hingegen reckten ihre Arme in die Luft. Zum Zeichen der Kapitulation. So lange, bis endlich klar wurde, woher die Schüsse kamen. Nämlich aus der Handtasche von Paula Vogler-Huth. Die griff jetzt in selbige und holte ein Mobiltelefon heraus. Das war aber nicht ihr eigenes. Das erkannte Plotek auch im Afghanennebel. Es war zerschrammt und wurde mit blauem Klebeband zusammengehalten: Es war eindeutig das von Vinzi. Dazu passte auch die Gewehrsalve als Klingelton.
»Wo haben Sie das her?«
»Gefunden.«
»Wo?«
»Im Aufzug.«
»Wann?« Es hörte sich jetzt wie ein Schlagabtausch beim Tennis an.
»Ist das ein Verhör?« Paula hatte offensichtlich keine Lust, weiter mitzuspielen.
»Ja.« Plotek klang entschlossen.
»Heute früh.«
Plotek nahm Paula das immer noch schießende Mobiltelefon aus der Hand. Er drückte auf die grüne Taste und hielt es sich ans Ohr. Noch ehe er etwas sagen konnte, sprach es schon aus dem Gerät. »Weltkugel!«, drang eine verstellte Stimme aus dem zusammengeflickten Handy. Sie hörte sich an wie die eines Mannes. Das war’s. Der Anrufer hatte aufgelegt.
»Und was hat sie gesagt?«, fragte Paula.
»Sie?«
»Wer auch immer«, kam es ungehalten von ihr.
» Weltkugel.«
»Was?«
»Weltkugel hat er gesagt«, betonte Plotek. Woraufhin beide zur Skulptur hinüberblickten. Während Plotek schon Übles schwante. Der tote nackte Vinzi, an den Globus gekettet. Vielleicht auch nur seine Augen. Oder Steffen Sailer. Aber nichts dergleichen. An der Weltkugel, die im Wesentlichen aus einem runden Gitterball mit einem Durchmesser von vielleicht fünf Metern bestand, der auf Stahlstützen und einem begehbaren Betonsockel thronte, war auf den ersten Blick nichts Auffälliges zu sehen. Auf den zweiten jedoch schon.
»Da!« Paula zeigte hoch zur Kugel. Am unteren Ende des Gitterballs wehte etwas im Wind. »Was ist das denn?«
Was soll das schon sein, dachte Plotek. Ein Tuch. Ein Taschentuch war das. Nun, es gibt Aufregenderes als eine an einer Skulptur befestigte Rotzfahne. Wenn es nicht Vinzis Rotzfahne gewesen wäre, wie Plotek jetzt erkannte! Vinzi hatte nur eine; nämlich dieses weiße Taschentuch mit blauem Rand. Beunruhigend war aber nicht, dass das Taschentuch jetzt an einer Weltkugel flatternd im Wind hing, sondern dass von dem Weiß kaum mehr etwas übrig war. Das Weiß war rot.
»Blut?«, fragte Paula, so wie man »Tot?« fragt.
Was denn sonst, dachte Plotek. Rote Bete, Ketchup, Brombeersirup? Bestimmt nicht.
»Scheiße!«
Als wäre das das Stichwort, flüsterte Paula: »Jetzt!« Der Zeitpunkt schien günstig. Oder: Es gab in diesem Fall keinen ungünstigen. Als Plotek nicht reagierte, noch einmal: »Jetzt!« Paula schürzte die Lippen.
»Was ist jetzt?« Gar nicht mehr flüsternd, eher vorwurfsvoll drängend.
Plotek presste seine Lippen auf die von Paula. Nur ganz kurz und so, dass Herlinde, die die beiden auch an der Weltkugel nicht aus den Augen gelassen hatte, es sehen konnte. Aber denkste. Paula griff blitzschnell nach Ploteks Kopf. Sie drückte ihn fest an sich und stieß mit ihrer Zunge durch seine Lippen in den Mund. Es fühlte sich an wie eine Wurst. Dick, fleischig. Es war kein kurzer, es war ein langer
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