Ahoi Polaroid
Aida. Und Aida zeigte auf ihn.
Schon klar, dachte Plotek, nur wer? Und nickte. Woraufhin Aida auch auf ihn zeigte.
»Scheiße, was soll das denn?«, fragte Plotek jetzt leise. Mehr sich selbst. Als er sich eine Antwort schuldig blieb, wandte er sich schließlich an den Schriftsteller: »Hä?«
»Wir sollen zu ihr kommen.« Er klang nun gar nicht mehr belustigt, vielsagend oder abgründig. Eher verzagt. Noch immer winkte Aida die beiden mit weit ausholenden Gesten zu sich. Während die anderen Zuschauer wieder rhythmisch zu klatschen anfingen und sich nach den beiden umdrehten. »Na los, kommen Sie schon!« Der Schriftsteller schob sich durch die Reihen hindurch in Richtung Bühne. Plotek blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.
Er wusste aus eigener Erfahrung: Die Macht eines Bühnendarstellers, ob Zauberer oder Schauspieler, Jongleur oder Sänger, ist grundsätzlich groß und unwiderstehlich. Auf der Bühne wird ein im Leben völlig unbedeutender Hanswurst zum König. Zum Kaiser. Zum Franz Moor und King Lear. Der die Fäden in der Hand hält und nicht nur seinen Hofstaat herumkommandiert, sondern auch jederzeit die Hoheit hat über das Volk jenseits des Orchestergrabens. Ende der neunziger Jahre, Landestheater Marburg, Molière, Der Menschenfeind. Plotek als Alceste. Damals, gegen Ende seiner Theaterkarriere und mit zerrüttetem Nervenkostüm, verließ er während der Aufführung kurz die Bühne und zog einem Zuschauer in der ersten Reihe, der bis dahin ständig leise despektierliche Kommentare von sich gegeben hatte, am Ohr. Folge: Die Kommentare hatten sich erledigt. Spätere Folge: Kündigung des Abonnements des Attackierten und Abmahnung Ploteks durch den Intendanten.
Aida begrüßte Plotek und den Schriftsteller mit freundlichem Handschlag. Sie forderte das Publikum zum Applaus auf, das der Aufforderung auch artig nachkam. Die beiden standen nun etwas bedröppelt nebeneinander auf der Bühne. Während die Zauberin mit den Fingern schnippte und plötzlich aus dem Nichts ein Blatt Papier in der Hand hielt. Wieder Applaus. Auf dem Papier war das Porträt von Charlotte Liebermann abgebildet. Genau das, das Herlinde Vogler-Huth gemalt hatte. Plotek war überrascht. Herlinde in der zweiten Reihe war ebenfalls verblüfft: »Das ist ja ein Ding!«
Aida forderte, wieder mit großer Geste, den Schriftsteller auf, das Bild zu zerreißen. Was dieser, mehr widerwillig als erfreut, schließlich tat. Das Bild, in viele kleine Fetzen zerlegt, ließ Aida hernach in einem schwarzen Zylinder verschwinden. Anschließend setzte sie sich diesen auf den Kopf und tänzelte damit ein wenig auf der Bühne herum. Begleitet von sphärischen Handbewegungen, die wohl zur Ablenkung dienen sollten. Sie nahm den Zylinder wieder ab, stellte ihn mit der Öffnung nach oben auf ein Tischchen und legte ein rotes Tuch darüber. Dann fuhrwerkte sie mit einem Zauberstab mehrmals darüber herum, bis sie schließlich das Tuch mit einem Ruck herunterzog. Mit großem Brimborium drehte sie den Zylinder um. Spätestens jetzt mussten die Schnipsel herausfallen. Erwarteten die Zuschauer. Auch Plotek. Und der Schriftsteller. Aber nichts. Keine Schnipsel, nirgends. Sie waren auch nicht mehr im Zylinder. Aida ließ erst Plotek zur Kontrolle hineinschauen, dann den Schriftsteller. Beide konnten keine Papierfetzen entdecken. Applaus. Damit war der Zaubertrick aber noch nicht zu Ende. Aida trat ganz nahe an Plotek heran. Jetzt konnte er ihr Parfüm riechen. Und das kam ihm sehr bekannt vor! Es war der gleiche Geruch, den Agnes bevorzugte. Und: Neptun! Das war der Geruch von Neptun. Neptun war Aida! Aida lächelte und griff Plotek ans Ohr. Wie er seinerseits als Menschenfeind dem Theaterabonnenten. Sie drückte die Ohrmuschel für ein paar Sekunden zusammen und verbarg sie in ihrer Hand. Dann ließ sie ihn wieder los. Sie reckte ihre Faust in die Luft und vollführte mit der anderen Hand magische Gesten. Bis sie sie wieder öffnete und das, was sich darin befand, auf ihrer Handfläche präsentierte. Es war ein kleiner zusammengefalteter Zettel. Den sie nun dem Schriftsteller reichte. Der nahm den Zettel und entfaltete ihn. Natürlich war es die zuvor zerrissene Zeichnung des Porträts von Charlotte Liebermann. Ohne einen Riss. Unversehrt quasi. Das Publikum tobte. Während Plotek die Möglichkeit hatte, die Zeichnung näher zu betrachten. Und nur er konnte erkennen, dass es nicht mehr die Gleiche war. Die Aufschrift Panoramadeck 8, 1:00, die auf dem
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