Ahoi Polaroid
Missverständnis auch noch an die große Glocke zu hängen. Die soll bloß froh sein, dass sie noch lebt.
»Und jetzt?« Swantje sah tatsächlich so aus, als wollte sie sich augenblicklich an der Suche nach Vinzi beteiligen.
»Wird schon wieder auftauchen.« Davon war Plotek tatsächlich überzeugt. Es war nur unklar, in welchem Zustand. Hubertus C. Bruchmeiers Zustand war an diesem Morgen ziemlich bedenklich. Aber immerhin weilte er noch unter den Lebenden. Auch wenn er aussah, als ob dies nicht mehr lange der Fall sein würde. Er hatte schwarze Ränder unter den Augen. War dazu so bleich im Gesicht, dass man fast schon von einem Pigmentverlust ausgehen musste. Er setzte sich zittrig zu Plotek an den Tisch. Was auch bei Plotek ein flaues Gefühl in die Magengegend applizierte.
»Noch ein Tag«, sagte Bruchmeier, als zählte er innerlich den Countdown.
»Schade eigentlich«, kam es von Swantje. Bruchmeier sah sie an, als wäre sie der Rächer.
»War doch bisher ganz schön, oder?« Swantje blickte sich hilfesuchend um und erwartete Unterstützung. Von wegen.
»Für Sie vielleicht«, grummelte Bruchmeier. Er verdrehte die Augen und trank einen kleinen Schluck aus seiner Tasse.
»Sie hätten die Reise ja nicht buchen müssen«, kam es unverdrossen von Swantje.
Bruchmeier sah sie an, als hätte sie nicht mehr alle Tassen im Schrank. Unschlüssig, ob er ihr an den Hals springen oder in Tränen ausbrechen sollte. Er entschied sich dann doch dafür, einfach verbittert zu lachen. Dabei verschluckte er sich und hustete. Ruedi Eschenbach klopfte ihm auf den Rücken, bis Bruchmeier ihn mit einem schnöden »Lassen Sie das!« stoppte.
»Mann, er hat es doch nur gut gemeint«, buhlte Swantje um Verständnis.
»Das reicht nicht«, sagte Bruchmeier, noch immer in barschem Tonfall.
»Der tickt doch nicht richtig!« Swantje verließ demonstrativ empört den Tisch.
An der Rezeption war der Zettel mit dem Porträt von Charlotte Liebermann mittags noch immer nicht aufgehängt. Was Plotek als ein gutes Zeichen wertete. Es hing aber ein anderer Zettel an der Wand. Heute Abend Showprogramm stand darauf. Nach dem Abendessen würde Zauberkünstlerin Aida im Panoramasalon auf Deck 8 auftreten. Alle waren herzlich eingeladen.
Vorher ging es aber von Honningsvag aus mit dem Bus zum Nordkap. Zum nördlichsten Punkt des Abendlandes. Plotek hatte verständlicherweise keine Lust. Aber er wollte nicht alleine auf dem Schiff bleiben. Momentan schien es ihm in Gesellschaft am sichersten zu sein. Also schloss er sich der kleinen Reisegruppe an, die mit einem Kleinbus durch die felsige Hügellandschaft aus Schnee, Steinen und niedrigen zähen Kräutern zur imposanten, 34 Kilometer entfernten Nordkapskulptur unterwegs war. Ruedi Eschenbach ließ erneut die Aquavitflasche kreisen und filmte mit seiner Digi-Kamera. Während Herlinde Vogler-Huth einmal mehr den Mund nicht zubekam. Obgleich sie enttäuscht wirkte, dass Plotek nicht die Sitzreihe mit ihr teilen wollte, sondern sich nach Betreten des Busses panikartig in die erstbeste Reihe gedrängt hatte. Und nun neben ihrer Tochter saß. Was Herlinde noch ärgerlicher stimmte. Immer wieder warf sie Paula feindliche Blicke zu, als hätte diese nichts anderes vor, als ihr hart erarbeitetes Glück mit einem Handstreich zu zerstören. Willentlich und wissentlich. Erstaunlicherweise schienen die visuellen Maßregelungen der Mutter die Tochter ziemlich kaltzulassen.
»Na, ausgeschlafen?«, fragte sie mit leicht süffisantem Tonfall. Plotek bereute die Sitzwahl schon wieder.
»Ihre Mutter will etwas von Ihnen.« Plotek parierte mit einer Retourkutsche und wies auf Herlindes visuelle Giftpfeile in Paulas Richtung.
»Meine Mutter will immer etwas.« Paula sah demonstrativ aus dem Fenster. »Aber ich fürchte mal, momentan viel lieber etwas von Ihnen.« Die Dicke ist ja verdammt schlagfertig, dachte Plotek. Er ersparte sich einen weiteren Kommentar. Paula hingegen gab sich weniger schweigsam und fragte, während sie weiter aus dem Fenster starrte: »Darf ich Sie um etwas bitten?«
»Lieber nicht.« Auch das hielt sie nicht davon ab weiterzureden. Mutters Gene.
»Könnten Sie mich am Nordkap küssen«, sagte sie, so wie man sagt: »Helfen Sie mir bei den Hausaufgaben?«
»Sind Sie verrückt?«
»Das wäre für uns beide von Vorteil.« Noch immer sah sie unverändert aus dem Fenster. Während Plotek Herlindes Blicken beharrlich auswich.
»Sie wären meine Mutter los. Und ich auch.« Paula klang
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