Ahoi Polaroid
Vinzi fluchte und verpasste dem Bildschirm links und rechts zwei Ohrfeigen. Ging dadurch aber auch nicht schneller. Umso größer war die Überraschung, als endlich der Bildschirmhintergrund erschien. Das Bild bestand nicht, wie vielleicht zu erwarten gewesen wäre, aus einer Abbildung eines Schiffes. Womöglich eines der Hurtigruten. Gar der MS Finnmarken. Das Bild hatte auch nicht im Entferntesten etwas mit Schifffahrt, Abenteuerreisen oder Norwegen zu tun. Keine zauberhafte Landschaft, keine Lofoten, Fjorde oder dergleichen. Nicht einmal Trolle waren zu sehen. Jetzt muss man wissen, dass Trolle aus der nordischen Mythologie stammen und Geisterwesen, Ungeheuer in Riesen – oder Zwergengestalt sind. Der männliche Widerpart zu Hexen, Feen und Elfen quasi. Bucklig, vierschrötig und mit Hakennasen. In dieser Hinsicht war der Bildschirmhintergrund dann doch nicht so unpassend. Er zeigte nämlich zwei sich küssende Männer. Aber nicht irgendwelche, sondern ganz Besondere. Das waren Erich Honecker und Leonid Breschnew. Soll heißen: auch Trolle, irgendwie. Staatsmännische Geisterwesen untergegangener Völker, eng aneinandergeschmiegt. Das war nämlich der Bruderkuss auf dem Bildschirm. Der sozialistische Bruderkuss. Der weltbekannte sozialistische Bruderkuss, der die Münder der trolligen Politiker aufeinandergepresst zeigte. Darunter stand: MEIN GOTT. HILF MIR. DIESE TÖDLICHE LIEBE ZU ÜBERLEBEN.
»Ist das nicht das Bild von der Mauer?«, fragte Vinzi, nachdem sich ihre anfängliche Verwunderung ein wenig gelegt hatte.
»Welche Mauer?« Plotek stand mal wieder auf dem Schlauch.
Vinzi sah ihn an, als befände er sich im Nachhilfeunterricht. Hausaufgabenhilfe, Geschichte, Hauptschule, Unterstufe. »Die Berliner Mauer, der antiimperialistische Schutzwall.« Es klang dementsprechend belehrend. »Heute ist ja kaum mehr etwas übrig davon. Nur im Osten von Berlin steht die Mauer in einem Abschnitt von etwa einem Kilometer noch. Dieser Mauerrest, die von Künstlern bemalte East Side Gallery, dient vor allem den Touristen als Kameramotiv. Als ein Relikt für »Ah« und »Oh« und »Bäh«. Erst neulich wurden, wenn ich mich nicht täusche, die Gemälde darauf restauriert. Weil man offenbar nicht akzeptieren will, dass Geschichte, die vergeht, eben auch abblättert. Ist eben blöd, dass sie dann für die Kameraobjektive nicht mehr sichtbar ist.«
Beide starrten noch immer auf die beiden sich küssenden Politiker.
»Und was hat das jetzt zu bedeuten?« Plotek schien noch immer vollkommen ahnungslos.
Vinzi wusste auch nicht weiter, argwöhnte aber, dass das Bild nicht grundlos als Bildschirmhintergrund gewählt worden war. »Das ist doch kein Zufall!«
»Aber was für eine Absicht soll denn dahinter stecken?«
»Weiß nicht.« Vinzi wirkte ungeduldig. »Na los, schieb den Stick rein.«
Plotek steckte den USB-Stick in den Rechner. Sofort tauchte das entsprechende Symbol auf dem Bildschirmschreibtisch auf. Genau da, wo die Staatsmänner die Lippen aufeinanderpressten. MFS stand darunter und: 123,7 MB 120,4 MB frei. Plotek klickte das Symbol an. In dem Fenster, das sich öffnete, erschienen fünf Text-Dateien nebeneinander.
»Was ist das?« Plotek war im Umgang mit Computern eher ein Laie. Früher schon. Heute noch mehr.
Vinzi kniff die Augen zusammen. »Ordner, Dateien«, sagte er, so wie man »Orden, Trophäen« sagt. Er kniff die Augen noch weiter zusammen und rückte näher an den Bildschirm heran. »Was steht drauf?«, fragte er.
Verwunderter Blick von Plotek.
»Hab meine Lesebrille nicht dabei.«
Plotek las laut vor, was unter der ersten Datei stand: »IM Jesus.«
»Klick an.«
Plotek klickte. Ein weiteres kleines Fenster ging auf. »Da steht Passwort.«
»Was für ein Passwort?«
»Keine Ahnung.«
»Scheiße. Klick die nächste Datei an.«
Vinzi schien immer ungeduldiger zu werden. Auch nervöser. Auf seiner Stirn bildete sich Schweiß.
»IM Johannes«, las Plotek.
»Und?«
»Wieder Passwort.«
»Scheiße.« Vinzi nahm ein großes kariertes Taschentuch aus der Jackentasche und wischte sich über das Gesicht.
»IM Stürmer«, las Plotek den nächsten Ordnernamen, und: »Nichts. IM Broiler. Nichts.«
Dann klickte Plotek auf die fünfte und letzte Datei.
»IM Herz.«
»Was?« Vinzi wurde ganz bleich.
»Auch nichts.«
»Scheiße.«
Es klang anders als zuvor. Was Plotek auch aufzufallen schien. »Was ist?«, fragte er.
»Nichts« – ähnlich deprimiert und tonlos. Wieder wischte er sich mit dem
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