Aina - Herzorgasmus
Das eine anstreben und das andere ablehnen. So ist der Lauf der Welt. So ist unser Lauf der Welt. Wir sorgen dafür, dass sie die Polaritätaufrechterhalten, damit wir weiterhin existieren können. Wir lassen sie Glück erleben, damit sie das Unglück fürchten und sorgen gleichermaßen für Unglück, damit sie weiterhin ihr Glück anstreben. Ohne diese Polarität könnten wir nicht existieren.«
Aina erinnerte sich an ihr Gespräch mit Alva und sagte: »Weil ihr nur einem Pol angehört und dieser nur mit seinem Gegenpol existieren kann. Löst sich einer davon auf, verschwindet auch der andere.«
Rece sah sie überrascht an und nickte. »Genauso ist es.«
Aina blickte nachdenklich den fensterlosen Korridor entlang. »Wenn du etwas Böses aus mir machen und alles Gute in mir auslöschen würdest«, sinnierte sie, »könnte ich dich dann noch wahrnehmen? Schließlich bist du ja auch das Böse. Und wenn wir beide das Böse sind, gäbe es keinen Gegenpol durch den wir uns erkennen würden. Oder?«
Er war schockiert darüber, dass sie die Sache offenbar so gut durchschaute. Er schüttelte langsam mit dem Kopf und sagte: »Bestehst du nur aus einem einzigen Pol, kannst du nur deinen Gegenpol wahrnehmen. In diesem Fall das Gute. Wenn du die Nacht wärst, könntest du die Nacht nicht sehen«, gab er ihr als Beispiel. »Du könntest dich nur im Tag erkennen. Und du könntest auch nur durch den Tag existieren. Du müsstest dich von ihm nähren. So, wie der Tod sich vom Leben nährt.«
Bei dem Wort Tod hatte Aina sofort die Vampire im Kopf. »Ist es das, was sie tun«, fragte sie, »wenn sie Blut trinken?«
Rece nickte. »Sie müssen sich vom Leben nähren, um ihre Existenz aufrechterhalten zu können. Bei ihnen ist es das Blut, da sie aus Materie bestehen und bei den Schattenwesen ist es die Energie, die sie von Menschen absorbieren.«
»Und bei dir?«, fragte sie jetzt gerade heraus.
Er sah sie lange an, bevor er ihr antwortete. »Ich bin Geist, sowie Materie und kann mich von deinem Blut nähren oder vondeiner Lebensenergie. Aber ich brauche nichts von beidem«, sagte er jetzt, woraufhin Aina ein überraschtes Gesicht machte. »Ich verkörpere beide Pole«, erklärte er. »Leben und Tod. Ich bin der Tod in einem lebendigen Körper. Ich brauche also keine Lebensenergie, um überleben zu können, weil ich selbst aus Leben bestehe.«
Sie erinnerte sich daran, wie sie in dieser Nacht seinen warmen Körper umschlungen und seinen hastigen Atem sowie seinen rasenden Herzschlag gehört hatte. Er war tatsächlich lebendig. »Aber«, sagte sie jetzt, »du sagtest, dass du dich vom Hass und von der Angst der Menschen nährst.«
Er setzte jetzt wieder sein teuflisches Grinsen auf und sagte: »Weil ich das Böse bin, Aina. Ich bestehe daraus. Ich rufe es in den Menschen hervor, weil ich ihnen das Gute stehle, das ich nicht bin. Was dann in ihnen übrig bleibt, der Hass, die Wut und die Angst, sind Zustände, die mich stärken, weil ich dadurch wachse. Je mehr Böses es auf der Welt gibt, umso stärker bin ich. Doch ich brauche genauso viel Gutes, um es hervorzurufen. Ohne das Gute in den Menschen, kann nichts Böses entstehen.«
Aina spürte das Entsetzen dieser Erkenntnis bis ins Mark. Er hatte ihr also an dem Tag, an dem er sie fast getötet hatte, nicht nur ihre Energie abgesaugt, sondern ihr das Gute entzogen, um das Böse in ihr hervorzurufen?
Er nickte.
Sie wich ein wenig von ihm zurück und sah ihn ängstlich an. »Hast du das auch getan, als wir…«
Jetzt lachte er. »Du glaubst, ich hätte die Tugenden und das Brave und Gute in dir entzogen, damit du hemmungslosen, unanständigen, bösen Sex mit mir hast?« Er lachte wieder. Doch sie blieb ernst. »Nein, Aina«, sagte er schließlich, konnte aber immer noch nicht aufhören zu lachen. »Das kam ganz allein von dir. Ich habe dich lediglich dazu gebracht deine Schattenanzunehmen. Mich anzunehmen. Das Böse, das du so sehr verdrängt hast.«
»Aber«, sie dachte an ihren letzten Arbeitstag und hätte sich am liebsten schon wieder für ihren Gefühlsausbruch an der Arbeit geohrfeigt, »es hat mich verändert! Ich bin ein ganz anderer Mensch geworden!«
»Natürlich!«, entgegnete er. »Weil du endlich das angenommen hast, was du bist! Du bist zum ersten Mal du selbst gewesen!«
Sie verstummte und senkte den Blick. War es wirklich so? War das ihre wahre Persönlichkeit? Es hatte sich zweifelsohne wirklich gut angefühlt, als sie ihren Job gekündigt und endlich
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