Akasha 03 - Das Exil der Messianer
sich erneut bedroht fühlte. Irgendwann sah sie das Gesicht das alten Mannes, schmal, faltig, dünne Lippen, eine lange und gerade Nase, schütteres Haar, graue Augen, in denen sich widerspiegelte, was sie verloren hatte, der Glanz von Hoffnung und Entschlossenheit, gleichzeitig jedoch auch ein Festhalten an Grundsätzen und Prinzipien.
Sie schlief ein.
»Wer sind Sie?« fragte Djamenah Shara und musterte den alten Mann aus den Augenwinkeln. Sie näherten sich inzwischen der Sphäre der Multidimensionsmechaniker.
»Ich bin ich.«
»Das ist keine Antwort.«
»Sie ist eindeutiger, als Sie glauben.« Der Alte lächelte. »Sind sie ebenfalls Sie selbst?« Er steuerte den Gleiter in die Tiefe und setzte vor dem schimmernden Komplex zur Landung an. Die Sphäre der Multidimenionsmechaniker mochte rund hundert Kilometer durchmessen, und durch die Energieschlieren, die sie mit einer undurchdringlich wirkenden Barriere umgab, konnte Djamenah undeutlich die Konturen fester Strukturen erkennen.
Sind Sie ebenfalls Sie selbst? Nein. Sie hatte sich von sich selbst entfernt. Seit sie ihren Präzeptor ermordet aufgefunden hatte, war sie zu einer anderen Person geworden, die sie erschreckte und Abscheu in ihr weckte, wenn sie versuchte, erneut der Mittelpunkt des Zentrums zu sein. So wie jetzt. »Warum helfen Sie mir?«
»Weil ich weiß, daß Sie nicht die wahre Messianermörderin sind.« Der Gleiter landete auf einer kleinen Plattform, und sie stiegen aus. »Weil ich weiß, daß Ihnen Unrecht widerfährt, in welcher Lage Sie sich befinden.«
Das war eindeutig nicht die ganze Wahrheit, doch Djamenah gab sich mit dieser Antwort zufrieden. In der Nähe des alten Mannes – wer auch immer er sein mochte – gelang es ihr, einen Teil jener inneren Stabilität wiederzufinden, die sie einst ausgezeichnet hatte. Die Gelassenheit war wie ein Rettungsanker, an dem sie sich festhalten konnte, wie ein Pinsel, der sie dazu in die Lage versetzte, das mentale Mandala neu zu zeichnen, säuberlich getrennt in eine schwarze und eine weiße Hälfte, mit einem ausdehnungslosen Punkt als Zentrum.
»Nein«, flüsterte Djamenah.
»Irgendwann wirst du verstehen.«
Überrascht drehte sie den Kopf. Aber die Lippen des Alten bewegten sich nicht, und er sah sie nicht an, während sie auf die Schleuse in der Ergmauer zuschritten. Djamenah wußte, daß der Alte ihr Auskünfte hätte geben können, daß er Antworten auf all ihre Fragen bereithielt, doch sie wagte es nicht, diese Fragen zu formulieren – aus Furcht, der zeitweilig wiedergewonnen Ruhe verlustig zu gehen, wenn sie die Dinge aussprach, die sie von dem entfernten, was sie einst gewesen war. Der Alte, der ihr seinen Namen nicht genannt hatte, war für Djamenah ein Pol der Gefaßtheit, der Synthese zwischen dem Schwarz und Weiß, und obgleich alles in ihr drängte, sich emotional an ihn zu klammern, ahnte sie, daß sie dadurch erneut das verloren hätte, was sie so dringend brauchte: innere Stabilität.
»Alarm, Alarm!« heulte es aus den Wänden der Ergschleuse. »Industriesaboteure und Innovationsdiebe im Anmarsch!«
Der Alte lächelte nur und führte Djamenah weiter. Hinter ihnen gellten die Sprachprozessorstimmen der Überwachungseinheiten.
»Nijmij ist ein wenig paranoid«, sagte der Alte, »gleichzeitig jedoch einer der erfahrensten und genialsten Multidimensionsmechaniker. Fast alle seiner Kollegen befinden sich derzeit außerhalb Akashas, entweder in dem neuen Habitat, das gerade von den Reparateuren konstruiert wird, oder auf dem Planeten der Taccamiri, um mit den intelligenten Kristallwesen philosophische Probleme zu erörtern. Nijmij hingegen verläßt sein Domizil nie. Dazu fürchtet er viel zu sehr die vermeintliche Gefahr des Ideendiebstahls.«
Djamenah konzentrierte sich ganz auf die Hoffnung, endlich Auskunft darüber zu erhalten, wo sich das Exil der Messianer befand, und beobachtete ihre Umgebung, um sich von der Furcht vor einer neuen Enttäuschung abzulenken.
Innerhalb der Ergbarriere bestand die Sphäre der Multidimensionsmechaniker aus Hunderten von größeren und kleineren Kuppeln, deren graues und milchiges Material – ebenfalls stabilisierte Energie, oder vielmehr Kunststoff oder Metall? – den Blick auf die Bauten verbarg. Im Inneren der Kuppel Nijmijs wanderten Djamenah und der alte Mann über kleine Brücken, die mit grünem Wasser gefüllte Kanäle überspannten, vorbei an Ufermauern und schattigen Promenaden, an prächtigen Villen und zerfallenen
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