Akte X
unsicheren Schritt, dann den nächsten. Er spürte seine Füße nicht mehr; sie waren nur Klumpen aus Fleisch am Ende seiner Beine, die sich selbst wie Gummi anfühlten, als würde sich sein Körper verändern, umbauen, als würden Gelenke an den seltsamsten Stellen wachsen.
Als er die Mitte der Brücke erreichte, hatte er das Gefühl, in der Luft zu schweben, obwohl er im trüben Grau der Morgendämmerung den Fluß unter ihm nicht erkennen konnte. Die Lichter der Stadt, die Wolkenkratzer und Straßenlaternen waren nur noch fahle Flecken.
Dorman stolperte weiter und konzentrierte sich auf den Fluchtpunkt, wo die Brücke im Nebel verschwand. Sein einziges Ziel war es, die andere Seite der Brücke zu erreichen. Schritt für Schritt. Und wenn er diese Etappe geschafft hatte, würde er sich auf die nächste konzentrieren und die übernächste, bis er Portland endlich hinter sich gelassen hatte.
Die bewaldeten Küstenberge schienen schrecklich weit entfernt zu sein.
Die Morgenluft war klamm und kalt, aber er konnte weder sie noch seine feuchte Kleidung spüren. Gänsehaut überzog seinen Rücken und seine Arme, aber es lag nicht an der Temperatur, sondern an der katastrophalen Veränderung, die sich in all seinen Zellen abspielte. Als Wissenschaftler hätte er den Prozeß interessant finden müssen - aber als Opfer dieser Veränderung empfand er nur nackte Angst.
Dorman schluckte hart. Sein Hals fühlte sich glitschig an, als wäre er voller Schleim, einem Sekret, das aus seinen Poren quoll. Als er die Zähne zusammenbiß, bemerkte er, daß sie sich gelockert hatten. Und sein Blickfeld war von einem schwarzen Schleier gerändert.
Er ging weiter. Er hatte keine andere Wahl.
Ein Kleinlaster donnerte über die Brückenplatten und an ihm vorbei. Das Echo des Motors und der Räder dröhnte in seinen Ohren. Er sah den roten Rücklichtern nach, bis sie verschwunden waren.
Plötzlich krampfte sich Dormans Magen zusammen und sein Rückgrat pendelte wie eine gereizte Schlange hin und her. Er fürchtete, sich im nächsten Moment aufzulösen, sich in eine Pfütze aus verflüssigtem Fleisch und zuckenden Muskeln zu verwandeln, eine gelatinöse Masse, die durch den Gitterrost des Brückengehwegs in den Fluß tropfen würde.
»Nein!« schrie er, eine heulende, entmenschlichte Stimme in der Stille.
Dorman griff mit einer schlüpfrigen, wächsernen Hand nach dem Brückengeländer und hielt sich fest, während er mit aller Willenskraft gegen die Krämpfe ankämpfte. Er verlor wieder die Kontrolle über sich. , , .
Von Mal zu Mal fiel es ihm schwerer, die Kontrolle über seinen Körper zurückzugewinnen. All seine biologischen Systeme reagierten nicht mehr auf die Befehle seines Gehirns, sondern entfalteten ein Eigenleben. Er klammerte sich mit beiden Händen an das Brückengeländer und drückte so fest zu, daß er schon glaubte, das Metall verbogen zu haben.
Er mußte wie ein potentieller Selbstmörder aussehen, der kurz davorstand, in die schwarzen, abgrundtiefen Fluten des gurgelnden Flusses zu springen - aber Dorman hatte nicht die Absicht, sich umzubringen. Im Gegenteil, alles, was er bisher getan hatte, war ein verzweifelter Versuch gewesen, am Leben zu bleiben. Um jeden Preis.
Er konnte nicht in ein Krankenhaus oder in eine Arztpraxis gehen - kein Arzt der Welt konnte seine Krankheit heilen. Und jedesmal, wenn sein Name in irgendwelchen Unterlagen auftauchte, bestand die Gefahr, daß er... unwillkommene Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Das konnte er nicht riskieren. Er mußte die Schmerzen einfach aushalten.
Schließlich, als die Krämpfe aufhörten und nur zitternde Schwäche hinterließen, schleppte sich Dorman weiter. Sein Körper ließ ihn noch nicht im Stich. Noch nicht. Aber er mußte sich konzentrieren, sich das selbstgesteckte Ziel ins Gedächtnis zurückrufen.
Er mußte diesen verdammten Hund finden.
Er griff in seine zerschlissene Hemdtasche und zog das zerknitterte, rußgefleckte Foto heraus, das er aus dem zerbrochenen Rahmen in David Kennessys Schreibtisch genommen hatte. Die hübsche junge Patrice mit ihren feingeschnittenen Gesichtszügen und den rotblonden Haaren und der drahtige, wuschelhaarige Jody lächelten in die Kamera. Ihre Mienen spiegelten die glückliche Zeit vor Jodys Leukämie, vor Davids verzweifelten Forschungen.
Dorman kniff die Augen zusammen und prägte sich das Bild ein.
Er war ein guter Freund der Kennessys und häufig in ihrem Haus zu Gast gewesen. Er war Jodys Ersatzonkel
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