Akte X
Edmund wollte nicht noch mehr Kaffee trinken oder Aspirin nehmen. Er würde es auch so schaffen.
Gerade als er dachte, einen wichtigen Abschnitt endlich verstanden zu haben, und er schon ein triumphierendes Grinsen aufsetzen wollte, hörte er eine Bewegung... ein Kratzen.
Edmund sprang auf, straffte die Schultern und sah sich in der Halle um. Eine Woche zuvor hatte man ihm einen Bären aufgebunden über eine Leiche - ein Mann, bei einem Autounfall geköpft -, die angeblich aufgestanden und aus dem Allegheny Catholic Medical Center gelaufen war. Ein Deckenlicht flackerte in der linken Ecke des Raumes, aber Edmund sah keine schlotternden kopflosen Gestalten... oder andere Manifestationen lächerlicher urbaner Legenden.
Er starrte die versagende Neonröhre an und erkannte, daß ihn das stroboskopartige Flackern gestört hatte. Er seufzte und kritzelte eine entsprechende Notiz für den Wartungsdienst. Die Techniker hatten die Temperatur in den Kühlfächern bereits doppelt überprüft, etwas Freon nachgefüllt und behauptet, daß in den Schubfächern - 4E eingeschlossen - alles exakt so war, wie es sein sollte.
Als Edmund keine weiteren Geräusche hörte, blätterte er weiter zu einem anderen Kapitel über die verschiedenen Verletzungsarten, die von stumpfen Waffen verursacht werden konnten. Dann hörte er wieder eine Bewegung - ein Scharren, ein Schaben... und dann ein lautes Bumm.
Edmund fuhr kerzengerade hoch und blinzelte nervös. Er wußte, daß er sich das nicht nur einbildete, oh nein, keineswegs. Er arbeitete schon zu lange in der Leichenhalle, um sich vom Ächzen des Gemäuers oder dem Fauchen der Klimaanlage ins Bockshorn jagen zu lassen.
Wieder das dumpfe Krachen. Wie vom einem Schlag gegen eine Metallplatte.
Er stand auf und versuchte, die Quelle des Lärms ausfin
dig zu machen. Er fragte sich, ob jemand verletzt war oder ob sich irgend jemand, der Übles im Schilde führte, in die stille Leichenhalle geschlichen hatte... aber warum? Edmund saß schon seit drei Stunden an seinem Platz und hatte nichts gehört, nichts gesehen. Er kannte jeden, der in dieser Zeit die Halle betreten hatte.
Wieder hörte er ein Klopfen und ein Poltern und ein Kratzen. Die Ruhe war jetzt endgültig vorbei. Jemand schien irgendwo eingeschlossen zu sein und sich verzweifelt befreien zu wollen.
Edmund näherte sich mit zunehmendem Grausen dem hinteren Teil der Halle - tief im Herzen wußte er, daß er dort die Quelle des Lärms finden würde. Eines der Kühlschubfächer - eines der Kühlschubfächer mit den Leichen.
In der Schule hatte er Horrorgeschichten gelesen, vor allem von Edgar Allan Poe, über Menschen, die bei lebendigem Leib begraben worden waren. Er hatte Gruselgeschichten über komatöse Opfer gehört, die man in die Kühlfächer der Leichenhalle gesperrt hatte, bis sie nicht an ihren Krankheiten, sondern an der Kälte gestorben waren - Patienten, die nach einem diabetischen Schock oder einem epileptischen Anfall irrtümlich für tot erklärt worden waren.
Edmund verstand genug von Medizin, um jede dieser Anekdoten als urbane Mythen abzutun, Altweibergeschwätz ... aber was er jetzt hörte, war Realität.
Irgend jemand hämmerte von innen gegen eine der Schubfachtüren.
Er trat näher und horchte. »Hallo!« rief er. »Ich hole Sie da raus.« Das war das mindeste, was er tun konnte.
Das Fach, aus dem das Klopfen drang, war mit einem »öffnen verboten« - Schild, gelbem Klebeband und dem Symbol für gefährliches biologisches Material markiert. Fach 4E. Es enthielt den Leichnam des toten Nachtwächters, und Edmund wußte, daß die fleckige, tumorverseuchte, schleimüberzogene Leiche schon seit Tagen in dem Fach lag. Seit Tagen! Agent Scully hatte an dem Mann sogar eine Autopsie vorgenommen.
Dieser Bursche konnte unmöglich noch am Leben sein.
Der ruhelose Lärm brach nach seinem Ruf ab, dann hörte er ein Trommeln wie von knotengleichen Fäusten oder Absätzen... wie von Ratten, die in den Wänden ihr Unwesen trieben.
Edmund schluckte hart. Handelte es sich um einen bösen Streich? Wollte ihm jemand einen Schrecken einjagen? Die Kollegen machten sich oft über ihn lustig und verhöhnten ihn als Trottel. Wenn dies ein Scherz war, würde er es ihnen heimzahlen. Aber wenn jemand Hilfe brauchte, mußte er handeln.
»Ist jemand da drinnen?« rief er und beugte sich näher zur versiegelten Kühlfachtür. »Ich lasse Sie raus.« Er kniff die weißen Lippen zusammen, sammelte all seinen Mut
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