Akte X
Pistole mittlerweile vollständig sinken lassen. Die Haut über seinen Wangenknochen war straff gespannt und schien im wechselhaften Licht zu glühen.
»Ich höre Ihnen zu, Duane«, sagte Mulder.
»Sie hören mir nur zu, weil ich eine Waffe habe.« »Nein. Ich glaube Ihnen.«
Lucy Kazdins Stimme dröhnte in Mulders linkem Ohr auf, so laut, daß sie seine Kieferknochen zum Schwingen zu bringen schien. »Nicht, Agent Mulder. Sie verstärken seine Psychose.« Nein, dachte Mulder. Was ich verstärke, ist die Wahrheit. Er ignorierte Agent Kazdin. »Ich weiß, daß Sie Angst haben, Duane. Ich kenne die Schmerzen und die Furcht, die Sie empfinden müssen.« »Hören Sie mir gut zu, Mulder. Sie dürfen sich nicht mit ihm identifizieren!«
Nein, Lucy, dachte Mulder. Ich spiele dieses Spiel jetzt nicht mehr nach Ihren Regeln. Ich weiß, worum es hier geht, und jetzt wende ich meine eigenen Regeln an.
Er warf einen kurzen Blick zu Janus hinüber, der sich immer noch mit Bob, dem Manager, beschäftigte. Wenn er Kazdins Regeln befolgte, würde dieser Mann sterben, dessen war er sich sicher. Sein Blick kehrte zu Duane zurück. »Ich habe schon mit anderen Leuten wie Ihnen gesprochen, mit Menschen, denen auch niemand glauben wollte.«
»Hey!« rief Janus leise.
Mulder drehte den Kopf langsam in Janus' Richtung. Der Agent war aufgestanden und kam auf ihn zu. »Dieser Mann wird sterben, wenn er nicht schnell in ein Krankenhaus kommt«, erklärte er. Mulder nickte. »Lassen Sie ihn gehen, Duane.«
Duane hatte sich halb abgewandt, den Kopf leicht gesenkt. Seine Brust hob und senkte sich schwer, als wäre er gerade eine längere Strecke gerannt. Das Haar, dunkel und fettig glänzend im schwachen Licht der Notbeleuchtung, fiel ihm tief in die Stirn. Er schien nicht zu registrieren, daß er nicht allein im Reisebüro war, aber Mulder hatte trotzdem den Eindruck, allmählich zu ihm durchzudringen. In welcher Welt sich Duane auch immer aufhalten mochte, wenigstens hörte er jetzt zu.
»Es gibt keinen Grund, warum dieser Mann sterben sollte. Hören Sie, Duane. Es liegt in Ihrer Macht. Lassen Sie ihn gehen.«
Und damit hielt er sich wieder genau an die Lehrmeinung des FBI. Ob Psychopathen, Entführer oder Serienmörder, für alle gab es letztendlich nur einen entscheidenden Antrieb: Macht. Dominanz und Unterwerfung, Vergeltung und Haß, Liebe und Verlust, das alles konnte für sie eine Rolle spielen, aber im Grunde lief es immer darauf hinaus, Macht auszuüben. Man mußte ihnen diese Macht zugestehen, sie anerkennen. Und sobald man es getan hatte, sobald man einmal ihre Überlegenheit bestätigt hatte, konnte man versuchen, an ihre Großzügigkeit zu appellieren.
Mulder wartete. Ihm schien, als müßte er sehr lange warten. Und schließlich...
»Okay«, antwortete Duane.
Gib ihm jetzt keine Gelegenheit, es sich noch einmal anders zu überlegen. »Gut, Duane. Sie haben sich richtig entschieden. Wir werden ihn jetzt ganz langsam zur Tür bringen...«
»Nein!«
Mulder runzelte fragend die Stirn.
»Ich lasse den Glatzkopf gehen«, erwiderte Duane, und plötzlich schimmerte eine Spur von Belustigung in seinen leblosen Augen auf. »Aber Sie bleiben hier. Ich tausche den Glatzkopf gegen Sie ein!«
In Mulders linkem Ohr klang ein merkwürdiges Geräusch auf, und es dauerte einen Moment, bevor er es identifiziert hatte. Agent Kazdin mußte sich gerade frustriert den Kopfhörer von den Ohren gerissen haben. Er hörte ihre leiser werdende Stimme: »Verdammt...« Ja, dachte er. Das trifft es: Verdammt!
2 Scharfschützenstellung über dem Halliday Square
Der Scharfschütze schob vorsichtig den Kopf über die Brüstung, bis er die gesamte Plaza überblicken konnte. Vor wenigen Sekunden war über Funk die Meldung hereingekommen:
Verwundete Geisel verläßt das Reisebüro.
ET fragte sich, woher die anderen das wissen konnten. Bisher tat sich dort unten nichts. Sie mußten einen der Agenten verwanzt haben. Oder den Notarztkoffer...
Sein Puls beschleunigte sich etwas, als er einen Lichtschimmer hinter der Glastür sah. Irgend jemand öffnete die Tür.
Der Scharfschütze richtete langsam den Lauf seiner Waffe aus und legte das Kinn auf den glattpolierten Gewehrkolben, so sanft, als liebkose er die Wange seiner Freundin. Sein Zeigefinger krümmte sich ohne bewußtes Zutun, bis er den Abzug leicht berührte. Aus dieser Entfernung konnte er einen Mann zwischen die Augen treffen und würde sofort wissen, welchem Auge der
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